Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 10.07.2020 – V ZR 156/19 – betrifft die Frage, ob der Eigentümer eines mit einem Gebäude bebauten Grundstücks zur Beseitigung eines auf dem Nachbargrundstück befindlichen Gebäudeteils („Überbau“) berechtigt ist.
Die Klägerin ist Eigentümerin eines Grundstücks, auf dem sich der überwiegende Teil eines aus mehreren Segmenten bestehenden Plattenbaus befunden hat. Die Klägerin erwirkte ein rechtskräftiges Urteil gerichtet auf Herausgabe der auf dem nicht in ihrem Eigentum stehenden Nachbargrundstück befindlichen Segmente sowie einer darin gelegenen bewohnten Wohnung. Die Wohnung war von der Beklagten und einem früheren Mitbesitzer der Beklagten gemeinschaftlich gemietet worden. Zur Herausgabe wurde der frühere Mitbesitzer der Beklagten verurteilt. Die Beklagte hatte während des Herausgabeprozesses das bis dahin bestehende gemeinschaftliche Mietverhältnis über die Wohnung alleine fortgesetzt.
Bei der Vollstreckung des Urteils erlangte die Klägerin den Besitz an dem Plattenbaurest auf dem Nachbargrundstück, jedoch nicht an der darin befindlichen Wohnung, da die Beklagte als Besitzerin die Herausgabe der Wohnung verweigerte. Die auf dem Grundstück der Klägerin befindlichen Plattenbaureste sind abgerissen worden. Dadurch wurde der auf dem Nachbargrundstück befindliche Plattenbaurest von allen Versorgungsleitungen abgeschnitten.
Die Klägerin hat mit der erhobenen Klage die Herausgabe der von der Beklagten beanspruchten Wohnung an sich verlangt. Die Beklagte hat die Abweisung der Klage erreichen wollen. Der BGH hat die Beklagte in letzter Instanz zur Herausgabe verurteilt.
Die Klägerin konnte die Herausgabe der Wohnung aufgrund ihres Eigentums an dem Überbau von der Beklagten verlangen (§ 985 BGB). Zu der eigentumsrechtlichen Lage hat der BGH die folgenden Feststellungen getroffen:
In tatsächlicher Hinsicht handelte es sich bei dem auf dem Nachbargrundstück befindlichen Gebäudeteil um einen von dem Nachbarn zu duldenden Überbau (§ 912 Abs. 1 BGB). Der Abbruch des auf dem Stammgrundstück befindlichen Gebäudeteils – in dem vorliegenden Fall des auf dem Grundstück der Klägerin befindlichen Teils des Plattenbaus – führt dazu, dass die Pflicht des Eigentümers des Nachbargrundstücks zur Duldung des Überbaus entfällt. Die eigentumsrechtliche Zuordnung des Überbaus zu dem Stammgrundstück, weil es sich bei dem Gebäude und daher auch bei dem zugehörenden Überbau um einen wesentlichen Bestandteil des Stammgrundstücks handelt, bleibt hingegen unverändert. Das hat der BGH mit der vorliegenden Entscheidung bestätigt. Nach den gerichtlichen Feststellungen wird durch die Zuordnung des Überbaus zu dem Eigentum an dem Stammgrundstück sichergestellt, dass der Eigentümer des Stammgrundstücks nach Durchführung der Abbrucharbeiten auf dem eigenen Grundstück für den Abbruch des Überbaus verantwortlich bleibt, seine Eigentümerbefugnisse durchsetzen und die in seinem Interesse liegende Beseitigung des Überbaus verwirklichen kann (§ 903 BGB).
Die Beklagte konnte dem Herausgabeanspruch der Klägerin kein Recht zum Besitz entgegenhalten (§ 986 BGB). In einem früheren Urteil hatte der BGH entschieden, dass der Eigentümer des Stammgrundstücks das Recht hat, auch den Überbau auf dem Nachbargrundstück zu beseitigen, der eigentumsrechtlich als wesentlicher Grundstücksbestandteil des Stammgrundstücks dem Stammgrundstück zugeordnet wird (BGH, Urt. v. 23.09.1988 – V ZR 231/87 –, NJW 1989, 221 (222)). Diese frühere Rechtsprechung hatte sich allerdings auf den Fall bezogen, dass das gesamte Gebäude beseitigt wird. Nach der zitierten BGH-Rechtsprechung macht es dann keinen Unterschied, auf welchem der beiden Grundstücke mit den Abbrucharbeiten begonnen wird. So ist es in dem vorliegenden Fall aber nicht gewesen, da die Klägerin zunächst nur den Abbruch des auf ihrem Grundstück befindlichen Gebäudeteils durchgeführt hat. Diesbezüglich stellt der BGH klar, dass dieser tatsächliche Ablauf der Abbrucharbeiten nichts daran ändert, dass die Klägerin zum Abbruch auch des auf dem Nachbargrundstück befindlichen Überbaus berechtigt ist. Entscheidend ist, dass es sich um ein einheitliches Bauvorhaben handelt und die Klägerin von vorneherein vorhatte, den gesamten Plattenbau abzureißen, woran sie allein durch die von der Beklagten erhobenen Rechtsbehelfe gehindert worden war.
Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte
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