Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat der vorläufigen Sicherung eines Überschwemmungsgebiets nach § 76 Abs. 3 des Wasserhaushaltsgesetzes (WHG) einen weiten Anwendungsbereich zuerkannt und damit die Schranken des Grundeigentums aus Gründen des Hochwasserschutzes entsprechend weit interpretiert. Unter Überschwemmungsgebiete im Sinne des § 76 Abs. 1 WHG fallen hiernach auch solche Gebiete, in die durch steuerbare Flutpolder aufgrund menschlicher Tätigkeit gezielt Hochwasser eingeleitet wird (BayVGH, Beschluss vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, LS 1 und Rn. 9). § 76 Abs. 3 WHG sieht demgemäß als Voraussetzung für die vorläufige Sicherung lediglich die Ermittlung von Überschwemmungsbieten, deren Kartierung und die noch nicht erfolgte Festsetzung (durch Rechtsverordnung der Landesregierung, § 76 Abs. 2 WHG) vor (BayVGH, Beschluss vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, LS 2 und Rn. 13). Ziel der vorläufigen Sicherung ist es, dass keine Fakten geschaffen werden, die dem vorbeugenden Hochwasserschutz zuwiderlaufen (Bay- VGH, Beschluss vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, LS 3 und Rn. 14). Das Instrument der vorläufigen Sicherung dient gerade auch dazu, die für die Hochwasserentlastung und Rückhaltung vorgesehenen Flächen vor der Realisierung der Hochwasserschutzmaßnahme von konkurrierender Nutzung freizuhalten (BayVGH, Beschluss vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, LS 4 und Rn. 16).
In dem zugrunde liegenden Verwaltungsrechtsstreit wandte sich der Kläger dagegen, dass Teile der Flächen seines landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetriebs mit Bekanntmachung des zuständigen Landratsamtes für zwei an der Donau geplante Flutpolder vorläufig als Überschwemmungsgebiet gesichert wurden. In erster Instanz wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Der BayVGH lehnte durch den Beschluss vom 31.07.2019 den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ab, weil ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) nicht dargetan seien und die Rechtssache auch nicht besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweise (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
Die wasserbehördliche Kartierung und vorläufige Sicherung eines noch nicht förmlich (durch Rechtsverordnung) festgesetzten Überschwemmungsgebiets wird man als sachbezogene Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Satz 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) und somit als verwaltungsprozessual anfechtbaren Verwaltungsakt ansehen müssen (VG Augsburg, Urteil vom 19.02.2013 – Au 3 K 12.1265; VG München, Urteil vom 14.06.2016 – M 2 K 15.3777).
Nach der Rechtserkenntnis des BayVGH sind Überschwemmungsgebiete nicht nur die bei dem Bemessungshochwasser (HQ 100) überfluteten Flächen (gem. § 76 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WHG), sondern auch solche Gebiete, die für die Hochwasserentlastung oder Rückhaltung beansprucht werden (§ 76 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 WHG). Dies gilt insbesondere auch für Gebiete, in die durch steuerbare Flutpolder – wie auf den betroffenen Flächen des Klägers geplant – Hochwasser eingeleitet werden soll (BayVGH, Urteil vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, Rn. 9 unter Bezugnahme auf VG München, Urteil vom 12.07.2015 – M 2 K 15.3956, Rn. 18, Urteil vom 14.06.2016 – M 2 K 15.3778, Rn. 16 und Urteil vom 14.06.2016 – M 2 K 15.1360, Rn. 16).
Damit hat der BayVGH der abweichenden, in Teilen der juristischen Literatur vertretenen Auffassung widersprochen, welche die gesetzliche Ermächtigung zur Ermittlung, Kartierung und vorläufigen Sicherung von noch nicht förmlich festgesetzten Überschwemmungsgebieten ausschließlich auf Gebiete beziehen will, für die nach § 76 Abs. 2 WHG eine zwingende Festsetzungspflicht besteht, d.h. für Gebiete mit hundertjährlichem Hochwasser (BayVGH, Beschluss vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, Rn. 12 ff.).
Dabei stützt der BayVGH sich zum einen auf den Wortlaut des § 76 Abs. 3 WHG, der vollumfänglich auf die Festsetzungsvoraussetzungen des § 76 Abs. 2 WHG verweist. Die gesetzliche Ermächtigung zur Flächensicherung umfasst mithin nicht nur die vom hundertjährlichen Hochwasser überfluteten Gebiete (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WHG), sondern auch die zur Hochwasserentlastung und Rückhaltung beanspruchten Gebiete (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 WHG).
Zum anderen beruft der BayVGH sich auf den Sinn und Zweck des Instruments der vorläufigen Sicherung. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 76 Abs. 2 WHG auf Überschwemmungsgebiete nach § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WHG widerspreche dem hohen Rang und der zunehmenden, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannten Bedeutung des Hochwasserschutzes (BayVGH, Beschluss vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, Rn. 14 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 28.01.1991 – Rs. C – 57/89; BVerfG, Beschluss vom 25.03.1998 – 1 BvR 1084/92; BVerwG, Urteil vom 27.01.2000 – 4 C 2.99, Rn. 37; BVerwG, Urteil vom 22.07.2004 – 7 CN 1.04, Rn. 22; BayVGH, Beschluss vom 22.02.2019 – 8 AS 19.40002 u.a., Rn. 22). Den Regelungen über die vorläufige Sicherung liege die Überlegung zugrunde, dass Überschwemmungsgebiete schon vor ihrer förmlichen Festsetzung im Wege der Rechtsverordnung schutzbedürftig seien. Ziel der vorläufigen Sicherung nach § 76 Abs. 3 WHG – ebenso wie nach der vorausgegangenen Bestimmung des § 31 b Abs. 5 WHG a.F. – sei es sicherzustellen, dass keine Fakten geschaffen werden, die dem vorbeugenden Hochwasserschutz zuwiderlaufen. Eine wirksame Hochwasservorsorge umfasse deshalb nicht nur den Schutz der vom hundertjährlichen Hochwasser betroffenen Gebiete, sondern auch die Erhaltung von für die Hochwasserentlastung oder Rückhaltung geeigneten Flächen, die auch nach dem Willen des Landesgesetzgebers vorrangig für diese Zwecke genutzt werden sollen (vgl. Art. 43 Abs. 1 Bayerisches Wassergesetz – BayWG).
Der BayVGH hat des Weiteren den Einwand des Klägers zurückgewiesen, eine vorläufige Sicherung eines Überschwemmungsgebiets setze voraus, dass die betroffenen Flächen bereits tatsächlich zur Hochwasserentlastung und Rückhaltung genutzt oder die zur Errichtung der Flutpolder notwendigen Genehmigungsverfahren bereits abgeschlossen oder zumindest eingeleitet seien. Diese Einschränkung findet – wie der BayVGH feststellt – im Wortlaut des § 76 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 WHG keinen ausreichenden Anhalt (BayVGH, Beschluss vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, Rn. 15 ff.). Etwas anderes ergibt sich hiernach auch nicht aus dem Umstand, dass § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 WHG von für die Hochwasserentlastung oder Rückhaltung „beanspruchten“ Flächen spricht. Wie das Verwaltungsgericht in erster Instanz zutreffend ausgeführt habe, dient das Instrument der vorläufigen Sicherung – so der BayVGH – gerade auch dazu, die für die Hochwasserentlastung und Rückhaltung vorgesehenen Flächen vor der Realisierung der Hochwasserschutzmaßnahme von konkurrierender Nutzung freizuhalten. Der Begriff der Beanspruchung ist mithin dahingehend zu verstehen, dass damit auch Gebiete erfasst werden, die zur Hochwasserentlastung oder Rückhaltung eingeplant, also gezielt dafür vorgesehen sind (BayVGH, Urteil vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, Rn. 16).
Diese Voraussetzung hat der BayVGH – ebenso wie das erstinstanzliche Verwaltungsgericht – in dem entschiedenen Fall bejaht, weil die streitgegenständlichen Flutpolder als Teil eines Gesamtkonzepts von geplanten Flutpoldern an der bayerischen Donau im Rahmen des Bayerischen Hochwasseraktionsprogramms 2020 plus vorgesehen sind. Nach der Erkenntnis des BayVGH steht der vorläufigen Sicherung der für den Bau der Flutpolder vorgesehenen Gebiete auch nicht entgegen, dass sie sich auf eine planerische Ermessensentscheidung stützt; denn dies liegt bei vorläufigen Sicherungsmaßnahmen in der Natur der Sache. Im Falle von Flutpoldern, wie sie an der bayerischen Donau eingerichtet worden sind, ist evident und typisch, dass sie planfeststellungspflichtig sind und auf planerischen Ermessensentscheidungen hinsichtlich der Größe und des Umgriffs beruhen (BayVGH, Beschluss vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, Rn. 18).
Schließlich begegnet die vorläufige Sicherung der für die Flutpolder vorgesehenen Flächen nach § 76 Abs. 3 WHG i.V.m. Art. 57 BayWG nicht deshalb Bedenken, weil hierdurch – wie eingewandt – die Regelungen zur Flächensicherung durch eine Veränderungssperre nach § 86 WHG umgangen werden. Vielmehr bestehen die Instrumente der Veränderungssperre und der vorläufigen Sicherung nebeneinander (BayVGH, Beschluss vom 31.07.2019 – 8 ZB 16.2560, LS 5 und Rn. 19 ff.).
Fazit
Der Beschluss des BayVGH verdeutlicht die Striktheit und Effektivität des vorbeugenden Hochwasserschutzes mit den Instrumenten des § 76 WHG. Die Klarstellung, dass § 76 Abs. 3 WHG die vorläufige Sicherung eines Überschwemmungsgebiets auch für Gebiete ermöglicht, in die zur Hochwasserentlastung und Rückhaltung durch steuerbare Flutpolder gezielt Hochwasser eingeleitet wird, stärkt die rechtlichen Möglichkeiten der plankonformen Errichtung von Flutpoldern, wie sie nicht nur an der Donau, sondern auch an anderen Flüssen, u.a. am Ober- und Niederrhein, vorgesehen und weitgehend bereits hergestellt sind. Die Kartierung und vorläufige Sicherung solcher Polderflächen stellt insbesondere für landwirtschaftlich genutzte Flächen eine prinzipiell verfassungskonforme Inhalts- und Schrankenbestimmung des Grundeigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz dar. Die Rechtspraxis wird sich hierauf einrichten müssen.
Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte
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