Bebauungsplan gegen Hausbau am See

Der Verwaltungsgerichtshof Baden­ Württemberg (VGH) hat in einem beachtenswerten Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214118 – Normenkontrollanträge gegen einen Bebauungsplan abgewiesen, der das Ziel verfolgt, auf einer Insel (Reichenau im Bodensee) die lockere, landschaftstypische und historisch gewachsene Streusiedlungsstruktur einschließlich größerer Freiflächen zu erhalten und ein weiteres zusammenwachsen der bislang getrennten Siedlungsbereiche zu verhindern. Mit diesem Ziel setzt der angegriffene Bebauungsplan allgemeine Wohngebiete, ein Sondergebiet, Flächen für die Landwirtschaft sowie private und öffentliche Grünflächen und öffentliche Verkehrsflächen fest. Der Bebauungsplan sucht mit der Festsetzung limitierter Baufenster sowie der Frei- und Grünflächen, ein inselweites Entwicklungskonzept umsetzend, die Errichtung weiterer baulicher Anlagen in der Nähe des Sees zu verhindern und noch vorhandene Sichtschneisen zu wahren. Mit der Zurückweisung der Normenkontrollanträge betroffener Grundstückseigentümer hat der VGH die planerischen Baubeschränkungen gebilligt. Diese sind nach der Erkenntnis des VGH rechtmäßig und wirksam. Einerseits ist damit dem Hausbau in der Nähe des Sees in einer schutzwürdigen Kulturlandschaft ein bauplanungsrechtlicher Riegel vorgeschoben. Beachtung verdienen andererseits die situationsabhängigen Voraussetzungen und Grenzen derartiger Baubeschränkungen.

Der VGH hat im entschiedenen Fall die für zulässig erachteten Normenkontrollanträge als unbegründet abgewiesen. In formellrechtlicher Hinsicht hat der VGH der Gemeinde attestiert, dass sie die abwägungserheblichen Belange zutreffend ermittelt und bewertet habe (§ 2 Abs. 3 Baugesetzbuch – BauGB). Für diesen Befund war wesentlich, dass die Grundstücke der Antragsteller nach der Erkenntnis des VGH nicht in einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB, sondern in einem Bereich mit einem für die Insel typischen Streusiedlungscharakter lagen. Hierunter ist eine historisch bedingte „verstreute“ Bebauung ohne Siedlungskern zu verstehen. Ihr fehlt wegen der geringen Zahl der zugehörigen Gebäude und des mangelnden Zusammenhangs mit anderen Gebäudegruppen der in § 34 Abs. 1 BauGB vorausgesetzte, für den unbeplanten Innenbereich kennzeichnende Bebauungszusammenhang sowie eine „organische Siedlungsstruktur“ (VGH, Urteil vom 29.07.2021 –  5 S 1214/18,  Rn. 35 ff.; zu diesen Kriterien schon VGH, Urteil vom 22.06.2016 – 5 S 1149/15, Rn. 51 f.; grundlegend zu den Voraussetzungen eines Ortsteils im Sinne des § 34  BauGB das Bundesverwaltungsgericht: BVerwG, Urteil vom 06.11.1968 – IV C 31.66).

Die im vorliegenden Fall auf den Grundstücken der Antragssteller vorhandene Bebauung möge zwar – so der VGH – historisch gewachsen sein. Sie stelle jedoch eine unorganische Splittersiedlung dar, weil sie eine angemessene Fortentwicklung der Bebauung innerhalb des gegebenen Bereichs nicht zulasse (VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 39; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 19.02.2014 – 4 B 40.13, Rn. 5).

Die Gebäude der Antragssteller stünden vielmehr in einer Art „Hofsituation“ zueinander. Nicht zu beanstanden sei auch die unterschiedliche Bewertung sowie die Ungleichbehandlung dieser Situation gegenüber der Bebauung in einem anderen Bereich, in dem die Gebäude in größerer Zahl entlang einer Gasse so angeordnet sind, dass sie den Eindruck eines Bebauungszusammenhangs und einer organischen Siedlungsstruktur vermitteln. Die unterschiedliche Bewertung stehe auch im Einklang mit dem Entwicklungskonzept der Gemeinde (VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 41 ff.).

Im Rahmen der formellrechtlichen Prüfung hat der VGH des Weiteren festgestellt, dass die Gemeinde die öffentlichen Belange zutreffend bewertet habe. Insbesondere habe die Gemeinde dem Erhalt der Blickbeziehungen zum See und zu einer historischen Kirche zu Recht erhebliche Bedeutung beigemessen (VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 46 f.). Zwar sei der Blick auf den See in bestimmten Richtungen durch große Gewächshäuser derzeit beeinträchtigt. Der Erhalt und die Wiederherstellung von Blickbeziehungen seien jedoch gewichtige und legitime Ziele, zu deren Umsetzung der Bebauungsplan diene. Nach der Beseitigung der bezeichneten Gewächshäuser werde die ungehinderte Sicht einerseits auf den See und andererseits auf die Kirche wiederhergestellt sein. Zutreffend habe die Gemeinde auch das Interesse an der Vermeidung des Zusammenwachsens von Splittersiedlungen bewertet (VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 48 f.).

Die Ablehnung der gestellten Normenkontrollanträge gründet sich im vorliegenden Fall entscheidend auf die gerichtliche Beurteilung, dass der angegriffene Bebauungsplan auch materiell als rechtmäßig anzusehen sei. Der Bebauungsplan ist nach der Erkenntnis des VGH sowohl erforderlich als auch frei von Festsetzungsfehlern und Abwägungsmängeln.

Erforderlich im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB ist der angegriffene Bebauungsplan, weil er nach der Feststellung des VGH von einer positiven Planungskonzeption getragen und vollzugsfähig ist (VGH, Urteil vom29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 51 ff.).

Die positive Planungskonzeption hat der VGH darin gesehen, dass der Bebauungsplan eine maßvolle Nachverdichtung zu steuern und dabei die typische Streusiedlungsstruktur der betroffenen UNESCO-Welterbestätte mit kleineren Siedlungssplittern und Siedlungszusammenhängen innerhalb größerer Grün- und Freiflächen zu erhalten sucht. Nach der vom VGH anerkannten Zielsetzung sollen des­ halb Siedlungszusammenhänge und Siedlungssplitter nicht zusammen­ wachsen und diese nicht ausgedehnt werden. Blickbeziehungen zum See sollen nach der Planungskonzeption gesichert und – soweit derzeit durch Gewächshäuser beeinträchtigt – mittelfristig wiederhergestellt werden. Die freien Blickbeziehungen zu der historischen Kirche vom Land und vom Wasser her, sollen erhalten werden (dazu VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 52; zu dem zugrunde liegenden Konzept bereits VGH, Urteil vom 25.03.2015 – 5 S 1047/14, Rn. 39).

Bemerkenswert erscheint, dass der VGH die Sicherung und Wiederherstellung der erwähnten Blickbeziehungen für schutzwürdig erachtet hat, obwohl diese zur Zeit der Planaufstellung und der gerichtlichen Normenkontrolle stark eingeschränkt waren und teilweise überhaupt nicht mehr bestanden. Planrechtfertigend wirkt das erklärte Ziel der Gemeinde, nicht nur bestehende Blickbeziehungen zu erhalten, sondern auch derzeit beeinträchtigte Blickbeziehungen wiederherzustellen. Ein ungehinderter Ausblick werde – wie der VGH betont – zwar erst nach der Beseitigung der erwähnten Gewächshäuser möglich sein. Dies hindere die Gemeinde jedoch nicht daran, planerisch diesen Zustand anzustreben (VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 56; so bereits VGH, Urteil vom 17.03.2015 – 5 S 1048/14). Insbesondere sei Flächenfestsetzungen eine Vollzugswahrscheinlichkeit in aller Regel schon dadurch eigen, dass die Zulässigkeit neuer Vorhaben an ihnen zu messen ist (§ 30 BauGB) und sich so zumindest langfristig ein Gebietswandel einstellen wird. Dabei sei auch der Erhalt und die Wiederherstellung der beeinträchtigten Blickbeziehungen möglich. Nach der Entfernung der bezeichneten Gewächshäuser werde insbesondere auch der Blick vom Uferweg zu der historischen Kirche wieder frei sein.

Bezogen auf die gebotene, vom VGH im konkreten Fall für zutreffend er­ achtete Abwägung und die Einschränkung der Eigentümerrechte, insbesondere der Bebauungsbefugnisse betroffener Eigentümer, lässt die Begründung des VGH aufhorchen: Da es sich bei dem Bereich um die Grundstücke der Antragsteller nicht um einen im Zusammenhang bebauten Ortsteil, d.h. um einen unbeplanten Innenbereich im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB, sondern um eine Splittersiedlung handle, würden den Antragstellern keine Baurechte entzogen. Ihrem Interesse, ihre Grundstücke mit weiteren Wohnhäusern bebauen zu können oder ihre bestehenden Wohnhäuser zu erweitern, misst der VGH geringes Gewicht bei, das der planerischen Abwägung nicht mit Erfolg entgegengesetzt werden könne (VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 67).

Dies gilt jedenfalls für ein unbebautes Außenbereichsgrundstück, für das der Bebauungsplan eine private Grünfläche nach § 9 Abs. 1 Nr. 15 BauGB   mit    der Zweckbestimmung „Lagerplatz“ festsetzt. Für die Rechtmäßigkeit dieser Festsetzung und des hierdurch bewirkten Ausschlusses einer Bebauung spricht nach der Erkenntnis des VGH neben den Besonderheiten der konstatierten „Hofsituation“ auch das mit dem Bebauungsplan verfolgte Ziel, Sichtachsen zum See und vom See zu der historischen Kirche langfristig wiederherzustellen (VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 68 bis 70).

Soweit der Bebauungsplan für andere Grundstücke ein allgemeines Wohngebiet mit Baufenstern festsetzt und dadurch weitergehende Bebauungsmöglichkeiten ausschließt, liegt nach der Erkenntnis des VGH ebenfalls kein Abwägungsfehler vor. Denn diese Grundstücke liegen in dem entschiedenen Fall innerhalb einer Splittersiedlung im Außenbereich, so dass durch den Bebauungsplan keine Bau­ rechte – auch keine privilegierten – entzogen werden. Vielmehr erhalten diese Grundstücke aufgrund der Festsetzungen des Bebauungsplans erstmals Baulandqualität, da sie künftig nicht mehr im Außenbereich nach § 35 BauGB, sondern im unbeplanten Innenbereich nach§ 30 BauGB liegen (VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 71). Die hiermit verbundenen Baubeschränkungen hat der VGH im entschiedenen Fall als abwägungsfehlerfrei und rechtmäßig angesehen. Die Gemeinde durfte – so der VGH – das Gewicht des Eigentümerinteresses an weiteren Bebauungsmöglichkeiten auf den bisher im Außenbereich gelegenen Grundstücken als relativ gering einstufen. Um­ gekehrt betrachtet, durfte sie dem öffentlichen Interesse am Erhalt der typischen Siedlungsstruktur und an der Verhinderung des Zusammenwachsens bestehender Siedlungssplitter das größere Gewicht beimessen. Mit der Überplanung eines bisher im Außenbereich gelegenen Grundstücks geht nicht eine Verpflichtung der Gemeinde einher, um­ fassende Erweiterungen der bestehenden Bebauung zu ermöglichen (VGH, Urteil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 72).

Schließlich hat der VGH weder einen Abwägungsfehler noch eine rechts­ widrige Ungleichbehandlung darin gesehen, dass der angegriffene Be­ bauungsplan einerseits Gartenbaubetriebe im allgemeinen Wohngebiet für allgemein zulässig erklärt und andererseits an mehreren Stellen im Plan­ gebiet, an denen bisher Gewächshäuser stehen, landwirtschaftliche Flächen festgesetzt hat, die von Bebauung freizuhalten sind. Die allgemeine Zulässigkeit von Gartenbaubetrieben habe – so der VGH – nicht zur Folge, dass sämtliche bereits vorhandenen Gewächshäuser im Plangebiet für die Zukunft planungsrechtlich abgesichert werden müssten. Wie die Gemeinde zutreffend erkannt habe, sei es nur dort gerechtfertigt, Gewächshäuser in Zukunft nicht mehr zuzulassen und sie damit „auf den Bestand zu setzen“, wo es schützenswerte Sichtbeziehungen gibt oder nach der Beseitigung der Gewächshäuser geben kann (VGH, Ur­ teil vom 29.07.2021 – 5 S 1214/18, Rn. 79).

Die praktische Bedeutung des wiedergegebenen Urteils reicht über den Anwendungsbereich der verwaltungsprozessualen Normenkontrolle gegenüber der Bauleitplanung nach § 47 VwGO hinaus. Der VGH war zwar nur auf der Ebene des Primärrechtsschutzes mit den Fragen der Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit des angegriffenen Bebauungsplans befasst. Seine Aussagen zur Aufhebbarkeit und Einschränkbarkeit bestehender Bodennutzungsbefugnisse im Außenbereich (§ 35 BauGB) vermögen als solche zu überzeugen. Mittelbar und unausgesprochen werfen sie jedoch Zweifelsfragen des Planungsschadensrechts (§§ 39 bis 44 BauGB) auf, insbesondere die Frage nach einer Entschädigung bei Änderung oder Aufhebung einer zulässigen Nutzung (§ 42 BauGB) sowie das Problem eines „Baurechts auf Zeit“. Nach bisheriger Gesetzesauslegung kann sich eine zulässige Nutzung im Sinne des Entschädigungstatbestandes des § 42 Abs. 1 BauGB auch aus §35 BauGB ergeben. Der VGH unterstellt dagegen, dass durch einen Bebauungsplan, der im Außenbereich eine bisher zulässige Nutzung ausschließt, keine Baurechte entzogen würden. Geht man hiervon aus, so müssen konsequenterweise auch Entschädigungsansprüche betroffener Eigentümer nach § 42 BauGB verneint werden, wenn ein Bebauungsplan eine bisher zulässige Nutzung im Außenbereich für die Zukunft ausschließt und der rechtlich geschützte Bestand überkommener baulicher Anlagen durch Nutzungsaufgabe oder baulichen Verfall endet. Dies liefe auf ein „Baurecht auf Zeit“ hinaus, das bisher nur in § 9 Abs. 2 BauGB bei entsprechenden Festsetzungen eines Bebauungsplans vorgesehen ist und im Übrigen de lege ferenda diskutiert wird. Hierüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte