LG Essen, Urteil vom 19.05.2017 – 19 O 258/14
Die Klägerin – ein führendes europäisches Recyclingunternehmen – nahm die beklagte Abfallerzeugerin und -lieferantin – eine ebenfalls europaweit tätige Herstellerin von bauchemischen Produkten – aus einem Entsorgungsvertrag auf Schadensersatz in Anspruch.
Zuvor hatte die Klägerin von der Beklagten verschiedene Abfälle aus dem Bereich der Klebestoff- und Dichtmassenherstellung zur weiteren Entsorgung übernommen. Die Abfälle wurden von den Parteien übereinstimmend als gefährlicher Abfall nach der Abfallverzeichnisverordnung (AVV) eingestuft, namentlich als Klebstoff- und Dichtmassenabfälle gemäß Abfallschlüssel 08 04 09* AVV, die organische Lösemittel oder andere gefährliche Stoffe enthalten. Auf eine Deklarationsanalyse zur Abgrenzung dieses sogenannten „Spiegeleintrags“ von ungefährlichem Abfall gemäß Abfallschlüsselnummer 08 04 10 AVV wurde verzichtet.
Unter den angelieferten Abfällen befand sich auch ein Spezialdichtstoff für die Herstellung von Isolierglasfenstern, der in der gegebenen Produktvariation einen Quecksilberkatalysator enthielt. Auf die Quecksilberbelastung hatte die Beklagte die Klägerin nicht gesondert hingewiesen. Die Klägerin hatte hiernach allerdings auch nicht gesondert gefragt. Die Klägerin übergab die übernommenen Abfälle daher in Unkenntnis der Quecksilberlast an die Betreiberin einer Rückstandsverbrennungsanlage. Nach Übergabe der Abfälle wurde vom Verbrennungsanlagenbetreiber festgestellt, dass die gelieferten Abfälle den Annahmegrenzwert für Quecksilber überschritten. Dies führte zu einem vorübergehenden Ausfall der Verbrennungsanlage. Den infolge des Ausfalls eingetretenen Kapazitätsverlust der Verbrennungsanlage glich die Klägerin durch Zahlung von 33.079,00 Euro netto gegenüber dem Verbrennungsanlagenbetreiber aus. Denselben Betrag machte die Klägerin nun im Rahmen ihres Schadensersatzbegehrens gegenüber der beklagten Abfalllieferantin geltend.
Das Landgericht Essen verneinte den geltend gemachten Schadensersatzanspruch. Eine Verletzung nebenvertraglicher Aufklärungspflichten lag nach Auffassung des Gerichts nicht vor. Die Beklagte habe die Klägerin im Rahmen der konkreten Vertragssituation insbesondere nicht über die Quecksilberbelastung der von ihr zur weiteren Entsorgung übergebenen Abfälle aufklären müssen. Aufklärungspflichten bestünden bei Vertragsverhandlungen im Rahmen von Treu und Glauben nämlich nur hinsichtlich solcher Umstände, die für den Vertragsschluss von wesentlicher Bedeutung seien. Entscheidend sei, ob der andere Teil unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung redlicherweise Aufklärung erwarten dürfe. Aufklärungspflichten würden stets voraussetzen, dass zu Lasten einer Partei ein Informationsgefälle bestünde, zu dessen Behebung die andere Partei nach den Umständen bei Vertragsschluss, dem Vertragszweck und der Verkehrsanschauung nach Treu und Glauben verpflichtet sei.
Ein solches Informationsgefälle zu Lasten der Klägerin sah das Landgericht Essen nicht als gegeben an. Denn die Beklagte habe unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falles keine Veranlassung gehabt, die Klägerin von sich aus und ungefragt über eine etwaige Quecksilberlast in den gelieferten Abfällen aufzuklären. Insbesondere hätte die Beklagte nicht gewusst, dass die Klägerin beabsichtigte, die Abfälle in einer Müllverbrennungsanlage zu verwerten, die hinsichtlich der Quecksilberkonzentration bestimmten Anforderungen unterlag. Insoweit hätte kein Informationsgefälle zu Lasten der Klägerin, sondern ein Informationsgefälle zu Lasten der Beklagten bestanden.
Wenn ein Abfallentsorger – hier die Klägerin – Abfälle über einen Sammelentsorgungsnachweis und ohne Deklarationsanalyse in einer Müllverbrennungsanlage verwerten lasse, die bestimmte Grenzwerte für die Annahme des Abfalls voraussetze, obliege es dem Abfallentsorger, seine Mitarbeiter entsprechend zu informieren, damit diese die Vertragspartner der Klägerin von diesen besonderen Konditionen in Kenntnis setzen können. Bei seiner Bewertung berücksichtigte das Landgericht Essen auch, dass die Parteien die gelieferten Abfälle übereinstimmend – und im Rahmen einer „Überdeklaration“ gleichsam sicherheitshalber – als gefährlichen Abfall nach der Abfallverzeichnisverordnung eingestuft hatten. Eine solche „Überdeklaration“ liege – insbesondere bei einem ebenfalls beiderseitigen Verzicht auf eine Analytik – im Interesse einer geordneten Abfallentsorgung; auch hieraus ergebe sich folglich kein Verstoß der Beklagten gegen ihre entsorgungsvertraglichen Pflichten.
Quelle: KOPP-ASSENMACHER & NUSSER
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