Verwirkung nachbarlicher Abwehrrechte

Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) hat mit Urteil vom 10.08.2020 – 10 A 3633/18 – entschieden, dass materielle Abwehrrechte des Nachbarn auch gegenüber einem ungenehmigten Bauvorhaben verwirkt werden können.

Die Klägerin ist Eigentümerin eines Grundstücks, das als Grünland genutzt wird und an das Grundstück des Beigeladenen grenzt, auf dem – grenzständig zum Grundstück der Klägerin – seit den 1960er Jahren ein nicht genehmigtes, nach und nach erweitertes und heute als Stall genutztes Gebäude steht, das der Beigeladene für seinen landwirtschaftlichen Betrieb nutzt.

Im März 2014 wandte sich die Klägerin erstmals an die Beklagte und beanstandete unter anderem den Standort des Stalls. Da die Beklagte ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen den Stall ablehnte, erhob die Klägerin diesbezüglich Klage. Die Klage hatte im Berufungsverfahren – wie auch schon in der Vorinstanz – keinen Erfolg.

Das OVG NRW begründete dies damit, dass die Klägerin ihr nachbarliches Abwehrrecht gegen den ungenehmigten Stall verwirkt habe. Eine Verwirkung setze insofern zum einen das Verstreichen eines längeren Zeitraums seit der Möglichkeit der Geltendmachung eines Rechts voraus und zum anderen besondere Umstände, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen.

Da der Stall in seinen heutigen, abstandsflächenrelevanten Abmessungen bereits im Jahr 2002 fertig gestellt war und die Klägerin sich erst im März 2014 an die Beklagte mit der Bitte um bauaufsichtsrechtliches Einschreiten gewandt hatte, war die erste Voraussetzung erfüllt. Als besondere Umstände, die das Begehren der Klägerin als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen, wertete das OVG NRW die langjährige Untätigkeit der Klägerin, die den über einen längeren Zeitraum verteilten Baumaßnahmen des Beigeladenen an dem Stall und der konkreten Nutzung des Stalls über die Jahre zugesehen hatte, ohne Einwendungen dagegen geltend zu machen. Vor diesem Hintergrund habe die Klägerin mit ihrer Untätigkeit – obwohl sie aus dem besonderen nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis nach Treu und Glauben verpflichtet sei, durch ein zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, einen durch die rechtswidrige Bebauung entstehenden wirtschaftlichen Schaden des Beigeladenen abzuwenden oder möglichst gering zu halten –, wesentlich dazu beigetragen, dass der Beigeladene darauf vertraut hat, sie werde keine Einwendungen mehr gegen den Stall oder seine Nutzung erheben. Das aus der Untätigkeit der Klägerin erwachsende Vertrauen habe der Beigeladene in hinreichender Weise durch entsprechende wirtschaftliche Dispositionen bestätigt.

Dass die Klägerin behauptete, sie sei zunächst fälschlich davon ausgegangen, dass der Stall bauaufsichtlich genehmigt sei, spiele in diesem Zusammenhang keine Rolle, da die Beeinträchtigung durch die beanstandete Grenzbebauung zu keiner Zeit davon abhing, ob der Stall genehmigt war oder nicht.

Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte

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