VGH Baden‐Württemberg, Urteil vom 7.10.2020 – 8 S 2944/18
Die durch Kopp‐Assenmacher & Nusser Rechtsanwälte vertretene Antragstellerin stellt u.a. OSB‐Platten her und verkauft diese bundesweit. Bei OSB‐Platten handelt es sich um harmonisierte Bauprodukte, die in den Anwendungsbereich der harmonisierten Norm EN 13986 und damit unter die EU-BauPVO fallen. Anforderungen an VOC‐Emissionen (volatile organic compounds) werden durch die harmonisierte Norm nicht aufgestellt. Die Musterverwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (MVV‐TB) enthält hingegen mit den „Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich des Gesundheitsschutzes (ABG)“ produktbezogene Anforderungen an VOC‐Emissionen aus OSB‐Platten. Eine der MVV‐TB entsprechende Regelung existiert im Hinblick auf Anforderungen an VOC‐Emissionen ebenfalls in der Verwaltungsvorschrift über Technische Baubestimmungen Baden‐Württemberg (VwV-TB). Danach dürfen OSB‐Platten bestimmte Grenzwerte für VOC‐Emissionen nicht überschreiten. Die Antragstellerin wendet sich mit einem Normkontrollverfahren gegen die Aufstellung von Anforderungen an VOC‐Emissionen durch die VwV‐TB. Sie ist zum einen der Ansicht, dass die Aufstellung von Anforderungen an VOC‐Emissionen gegen das Marktbehinderungsverbot des Art 8 Abs 4 BauPVO verstößt, weil die maßgeblichen Produktanforderungen für OSB‐Platten in der abschließenden harmonisierten Norm EN 13986 festgelegt worden sind. Zum anderen fehle es derzeit an gesicherten Forschungsergebnissen hinsichtlich gesundheitsschädlicher Auswirkungen von VOC‐Emissionen sowie erst recht an einer fachlichen Grundlage für die Festlegung der streitgegenständlichen Grenzwerte; die Anforderungen seien daher dem Vorsorgebereich zuzurechnen. Letzteres ist nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 73a BW LBO gedeckt.
Das Normkontrollverfahren hat Erfolg. Die Aufstellung von Anforderungen an VOC‐Emissionen für OSB‐Platten durch die VwV‐TB ist nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 73a BW LBO gedeckt und somit unwirksam. Die angegriffene Regelung der VwV‐TB konkretisiert die gesetzlichen Anforderungen für bauliche Anlagen nach § 3 Abs. 1 BW LBO und stellt einen tauglichen Antragsgegenstand eines Normkontrollverfahrens dar. § 73a BW LBO gestattet eine Konkretisierung der Anforderungen für bauliche Anlagen in der VwV‐TB jedoch nur, soweit hierdurch gewährleistet werden soll, dass insbesondere Leben, Gesundheit oder die natürlichen Lebensgrundlagen nicht bedroht werden und bauliche Anlagen ihrem Zweck entsprechend ohne Missstände nutzbar sind. Tatbestandliche Voraussetzung für die Aufstellung zusätzlicher Anforderungen an VOC‐Emissionen ist demnach das Vorliegen einer abstrakten Gefahr, während ein Gefahrenverdacht oder eine bloße Besorgnis nicht ausreichen. Der VGH Baden‐Württemberg konnte jedoch – trotz einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem verfügbaren Forschungsstand – keine hinreichend abstrakte Gefahr für die menschliche Gesundheit im Hinblick auf von OSB‐Platten potenziell ausgehende VOC‐Emissionen feststellen, welche die Festlegung konkreter Summengrenzwerte für VOC‐Emissionen in Anhang 8 VwV‐TB als gerechtfertigt erscheinen lässt. Da die angegriffene Regelung der VwV‐TB bereits nicht den Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage entspricht, kommt es auf eine Unionsrechtswidrigkeit nicht mehr an. Jedoch stimmte das Gericht der Antragstellerin darin zu, dass der EU‐BauPVO das System der Vollharmonisierung zu Grunde liegt, welches den Mitgliedstaaten aufgrund von Art. 8 Abs. 4 EU-BauPVO grundsätzlich verbietet, zusätzliche nationale produktbezogene Anforderungen an harmonisierte Bauprodukte aufzustellen.
Anmerkung: Die Bedeutung des Urteils geht weit über den entschiedenen Fall hinaus. Zwar gilt das Urteil zunächst unmittelbar nur für die VwV‐TB Baden‐Württemberg, dennoch hat die Entscheidung auch Bedeutung für die Rechtslage in anderen Bundesländern, da die in Baden‐Württemberg angegriffenen Regelungen auch in anderen Bundesländern nahezu identisch umgesetzt worden sind. Dementsprechend sind Normenkontrollverfahren in weiteren Bundesländern anhängig. Die Ausführungen des VGH Baden‐Württemberg betreffen zudem nicht nur die Anforderungen an VOC‐Emissionen aus OSB‐Platten. Schließlich gilt das gesetzliche Erfordernis der Gefahrenabwehr grundsätzlich für alle normkonkretisierenden Anforderungen an bauliche Anlagen durch Technische Baubestimmungen. Um die Eignung der Regelungen zur Gefahrenabwehr beurteilen zu können, muss der Regelungssetzer sich u.U. auch vertieft mit den verfügbaren wissenschaftlichen Grundlagen des Regelungsthemas befassen. Neben Anhang 8 MVV‐TB dürften beispielsweise auch die „Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich der Auswirkungen auf Boden und Gewässer (ABuG)“ (Anhang 9 MVVTB) von dieser Problematik betroffen sein.
Quelle: Kopp-Assenmacher & Nusser Rechtsanwälte PartGmbB
Das dazu gehörige Fachseminar ist in der Seminarwelt des IWU Magdeburg auffindbar.