OLG München, Beschluss vom 09.3.2018 – Verg 10/17
Die Entscheidung befasst sich mit der 2012 mit dem KrWG eingeführten 5-stufige Abfallhierarchie, die bislang wenig Beachtung in der Rechtsprechung gefunden hat, obwohl sie zutiefst praxisrelevant ist. Eine 2016 im Zuge der Novellierung der Gewerbeabfallverordnung erfolgte Abfrage bei den Länderumweltministerien ergab, dass die Abfallhierarchie den Verwaltungsvollzug der Länder bis dahin völlig unberührt gelassen hatte. Die Verwaltungsgerichte haben bisher keinen Fall entschieden, bei der § 6 KrWG die streitentscheidende Norm war.
Seit Längerem wiederum ist bekannt, dass Abfallrecht durchaus vergaberelevant ist: Z.B. können verbindliche Vorgaben in Abfallwirtschaftsplänen bestimmen, welche Anlage der öffentliche Auftraggeber für die Entsorgung der betreffenden Abfälle wählen muss; und die abfallrechtlichen Vorschriften darüber, inwiefern die Entsorgungspflichtigen ihre Aufgabe und Pflichten übertragen können, bestimmen z.B. die Möglichkeiten öffentlicher Auftraggeber zur Kooperation.
Nun war es mit dem Vergabesenat des OLG München eine Vergabenachprüfungsinstanz, die Abfallrecht im Rahmen von Vergabeverfahren zur Anwendung brachte und dabei zum ersten Mal seit 2012 die Abfallhierarchie gemäß § 6 KrWG als streitentscheidende Norm anwendete.
Der öffentliche Auftraggeber beabsichtigte die Vergabe von Aufträgen über die Entsorgung von teer- und 1pechhaltigem Straßenaufbruch, der bei Straßenbaumaßnahmen anfällt. Hinsichtlich der Entsorgung gab der Auftraggeber vor, den Straßenaufbruch in einer dafür geeigneten Anlage thermisch zu verwerten (vollständige Verbrennung der Schadstoffe und Wiederverwendung der enthaltenen Gesteinskörnungen), um das Schadstoffpotential des Straßenaufbruchs weitestgehend, langfristig bzw. dauerhaft und sicher auszuschleusen sowie die mineralische Fraktion hochwertig und ressourcenschonend zu verwerten.
Ein Bieter rügte diese Ausschreibung als vergaberechtswidrig und beanstandete die Vorgabe, den Straßenaufbruch zu 100 % der thermischen Verwertung zuführen zu müssen, weil diese Vorgabe – so die Bieterrüge – nicht im Einklang mit den Vorschriften des KrWG stehe. Denn bei der vorgesehenen Entsorgung handele es sich nicht um die umweltschonendste Maßnahme, womit der Auftraggeber die zwingend vorgeschriebene Abfallhierarchie missachte. Der Auftragnehmer werde somit dazu verpflichtet, sich nicht gesetzeskonform zu verhalten. Auch sei verabsäumt worden, die im KrWG vorgesehene Ökobilanz zu erstellen. Es müsse zumindest auch gestattet sein, den Straßenaufbruch im Deponiebau verwerten zu können. Der Auftraggeber half der Rüge nicht ab, weswegen der Bieter ein Nachprüfungsverfahren einleitete. Mit Erfolg.
Denn der öffentliche Auftraggeber hatte nach Auffassung des OLG München seinen Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum bei der Festlegung der Art der Entsorgung des anfallenden Straßenaufbruchs nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Grundlage für diese Wertung war folgende Auslegung von § 6 KrWG: Absatz 1 dieser Vorschrift regele als Grundsatznorm abstrakt die generelle Rangfolge von Maßnahmen (Vermeidung, Vorbereitung zur Wiederverwendung, Recycling, sonstige Verwertung und auf der letzten Stufe die Beseitigung). § 6 Abs. 2 KrWG spezifiziere die in Absatz 1 genannte Prioritätenfolge. Demnach solle nach Maßgabe der §§ 7 und 8 KrWG diejenige Maßnahme Vorrang haben, die den Schutz von Mensch und Umwelt bei der Erzeugung und Bewirtschaftung von Abfällen unter Berücksichtigung des Vorsorge- und Nachhaltigkeitsprinzips am besten gewährleiste. Dabei sei der gesamte Lebenszyklus des Abfalls zugrunde zu legen und insbesondere die zu erwartenden Emissionen, das Maß der Schonung der natürlichen Ressourcen, die einzusetzende und zu gewinnende Energie sowie die Anreicherung von Schadstoffen in Erzeugnissen, in Abfällen zur Verwertung oder in daraus gewonnenen Erzeugnissen zu berücksichtigen. Ebenfalls seien die technischen Möglichkeiten, die wirtschaftliche Zumutbarkeit und die sozialen Folgen der Maßnahme zu beachten. § 6 Abs. 2 KrWG ermögliche damit eine Abweichung von der Rangfolge gemäß Absatz 1, die allerdings als Ausnahme von der Regel rechtfertigungsbedürftig sei. § 7 Abs. 2 KrWG und § 8 KrWG würden diese Grundsätze weiter umsetzen: Auch hier finde sich zum einen der Vorrang der Verwertung von Abfällen vor deren Beseitigung, andererseits entfalle dieser Vorrang, wenn die Beseitigung der Abfälle den Schutz von Mensch und Natur am besten gewährleiste.
Damit werde vom KrWG eine komplexe Prüfung und Abwägung sehr unterschiedlicher Ziele und Folgen verlangt, um die bestmögliche Verwertung bzw. Entsorgung anfallenden Abfalls zu gewährleisten. Von einem öffentlichen Auftraggeber könne und müsse verlangt werden, dass er dann, wenn er einen ganz bestimmten Umgang mit dem Abfall vorschreibe und alle sonstigen Möglichkeiten der Entsorgung, die nicht von vorneherein offensichtlich nachrangig seien, zwingend ausschließe, die zentralen Aspekte, die für bzw. gegen die beabsichtigte Festlegung sprechen, gegenüberstelle und bewerte und dabei die grundlegende Konzeption des KrWG berücksichtige. Nur so könne im Zuge eines Nachprüfungsverfahrens festgestellt werden, ob die Vergabestelle den ihr zustehenden Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum auch ordnungsgemäß ausgeübt habe.
Auch die Bestimmungsfreiheit des öffentlichen Auftraggebers, ob und was beschafft werden soll (und damit auch die Frage, welche Anforderungen an die zu beschaffenden Leistungen gestellt werden dürfen), unterliege allgemeinen vergaberechtlichen Grenzen. Die Bestimmung des Auftragsgegenstandes müsse sachlich gerechtfertigt sein und es müssten dafür nachvollziehbare, objektive und auftragsbezogene Gründe vorliegen. Die Festlegung müsse willkür- und diskriminierungsfrei erfolgen.
In dem zu entscheidenden Fall habe – so das OLG München weiter – der öffentliche Auftraggeber den ihm eingeräumten Ermessens- und Beurteilungsspielraum nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Denn der öffentliche Auftraggeber müsse den Sachverhalt zutreffend und vollständig ermitteln, Verfahrensgrundsätze einhalten, keine sachwidrigen Erwägungen in die Entscheidung einfließen lassen, die zu berücksichtigenden Gesichtspunkte angemessen und vertretbar gewichten und die gesetzlichen bzw. selbst vorgegebenen Maßstäbe beachten. Die Vergabedokumentation sei gemäß § 8 VgV die vergaberechtlich maßgebliche Informationsgrundlage für die Beurteilung, ob diese Vorgaben eingehalten wurden. In dem vom OLG München zu entscheidenden Fall enthielt die vorgelegte Vergabeakte jedoch keinerlei Dokumentation dazu, aufgrund welcher Erwägungen und unter Berücksichtigung welcher Aspekte sich der öffentliche Auftraggeber auf die thermische Verwertung als einzig zulässige Maßnahme festgelegt hatte. Eine bloße Bezugnahme auf ein Schreiben des Bayerischen Landesamtes für Umweltschutz aus dem Jahr 2017 bzw. auf das Merkblatt Nr. 3.4/1 des BayLfU genüge nicht, zumal dort auch die Verwertung des Abfalls auf Deponien als zulässige Entsorgungsmaßnahme genannt sei. Damit hatte der Auftraggeber – der als mögliche Alternative zu der von ihm gewählten Verwertungsart nur die Beseitigung des Abfalls auf Deponien im Blick hatte, nicht dagegen die von der Antragstellerin im Verfahren dargelegte Verwertung durch Nutzung als Deponiebauersatzstoff – eine wesentliche zulässige Verwertungsoption nicht in seine Überlegungen einbezogen, mithin den Sachverhalt vorab nicht ausreichend ermittelt und damit auch keine nach dem KrWG gebotene vergleichende Bewertung der Vor- und Nachteile der Alternativen angestellt.
Anmerkung: Die Entscheidung des OLG München zeigt, dass die Abfallhierarchie gemäß den §§ 6 bis 8 KrWG – obwohl ihre Bedeutung im abfallbehördlichen Vollzug bislang erstaunlicherweise gering war – durchaus „scharf gestellt“ werden kann und echte Rechtspflichten für die Erzeuger und Besitzer von Abfällen mit sich bringt. Auch wenn nicht zwingend eine gutachterliche Ökobilanz erforderlich ist, muss im Einzelfall doch zumindest deutlich werden, dass sich der Verpflichtete mit allen wesentlichen in Betracht kommenden Entsorgungsvarianten auseinandergesetzt, die insoweit relevanten Umstände im Wesentlichen zutreffend ermittelt, vertretbar bewertet und vertretbar gegeneinander abgewogen haben muss. Das gilt für öffentliche Auftraggeber in einem Vergabeverfahren ebenso wie für alle anderen abfallrechtlich Verpflichteten.
Quelle: KOPP-ASSENMACHER & NUSSER
Das dazu gehörige Fachseminar ist in der Seminarwelt des IWU Magdeburg auffindbar.