Verständigung in Strafverfahren – Grundsatzdebatte vor dem Bundesverfassungsgericht

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat am 7. November 2012 über drei Verfassungsbeschwerden (2 BvR 2155/11, 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10) gegen strafrechtliche Verurteilungen verhandelt, denen in den Ausgangsverfahren jeweils eine Verständigung gemäß § 257 c StPO zwischen den Verfahrensbeteiligten vorausgegangen war. Die Verfahren waren vor dem Landgericht Berlin sowie dem Landgericht München II geführt worden.

Die Zulässigkeit von Absprachen bzw. deren Grenzen sind Gegenstand jahrzehntelanger Diskussionen in Rechtsprechung und Literatur. Der Vierte Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 28. August 1997 (4 StR 240/97 – BGHSt 43, 195) erstmals höchstrichterliche Leitlinien zur Verständigung im Strafverfahren entwickelt. Der im Nachgang angerufene Große Strafsenat für Strafsachen des BGH hat diese aufgestellten Maximen in seinem Beschluss vom 3. März 2005 (GSSt 1/04 – BGHSt 50, 40) präzisiert, verbunden mit dem Appell an den Gesetzgeber, der richterrechtlich entwickelten Verständigungspraxis eine gesetzliche Legitimation zu geben. Der Gesetzgeber hat der Aufforderung im Jahr 2009 entsprochen und das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren verabschiedet (sogen. Verständigungsgesetz, BT-Drs. 16/12310).

Zentrale Regelung des Gesetzes ist § 257 c Strafprozessordnung (StPO), wonach sich das Gericht in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten unter Einhaltung festgeschriebener Prämissen über den weiteren Fortgang und das Ergebnis eines Verfahrens verständigen kann.

Gegenstand der derzeit beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerden sind die Rügen der Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Grundgesetz), des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz, Art. 6 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention), des Schuldprinzips (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) sowie des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) durch die jeweils getroffenen Verständigungen. Mittelbar greifen die Beschwerdeführer zudem die Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes an. Nach Auffassung der Beschwerdeführer verstößt das Verständigungsgesetz, namentlich § 257 c StPO, gegen das verfassungsrechtliche Schuldprinzip sowie das Rechtsstaatsgebot.

Der Zweite Senat des BVerfG betreibt das Verfahren mit hohem Aufwand. Im Vorfeld der mündlichen Verhandlung war Prof. Dr. Altenhain (Heinrich-Heine-Uni­versität Düsseldorf) mit der Durchführung einer Studie über die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften in der Verständigungspraxis beauftragt worden. Die empirische Grundlage der Studie bildet die Auswertung einer Befragung von 330 Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern in Nordrhein-Westfalen. Nach der Auswertung der erhobenen Daten gehen fast zwei Drittel der Befragten davon aus, dass bei jeder zweiten Absprache gegen das Verständigungsgesetz verstoßen werde. Vor allem bleibe die trotz Verständigung zwingend erforderliche „Erforschung der Wahrheit“ regelmäßig aus. Auch legten die Angeklagten regelmäßig lediglich „Formalgeständnisse“ ab, in denen sie die Richtigkeit des Anklagesatzes lediglich pauschal und ohne weitere Angaben bestätigten. Dieses Phänomen korrespondiere mit der Beobachtung mehr als der Hälfte der befragten Strafverteidiger, dass von den Angeklagten Falschgeständnisse abgegeben würden, um einer höheren Strafe zu entkommen. Ein stumpfes Schwert sind nach einhelliger Auffassung der Befragten die Formvorschriften, welche die Verständigung nach dem Gesetzeszweck transparent und überprüfbar gestalten sollten. Diese würden durch die Rechtsprechung als einfache Formvorschrift degradiert, so dass etwaige Fehler ohne Auswirkung in den Rechtsmittelinstanzen blieben. Zudem werde das ausdrücklich geregelte Verbot des Verzichts auf Rechtsmittel in der Praxis offensiv umgangen.

Der Zweite Senat des BVerfG hatte zu der mündlichen Verhandlung zahlreiche Sachverständige sowie Vertreter von Interessensverbänden geladen. Aus den Reihen der Rechtsanwaltschaft nahmen unter anderem Rechtsanwalt Prof. Dr. Ignor und Prof. Dr. Schlothauer als Repräsentanten der Bundesrechtsanwaltskammer – Strafrechtsausschuss – teil.

Die Straf- und Verfassungsrechtsausschüsse der Bundesrechtsanwaltskammer hatten bereits im August 2012 eine umfangreiche Stellungnahme zu den erhobenen Verfassungsbeschwerden abgegeben und sich in diesem Zusammenhang auch zu der Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes verhalten (Stellungnahme 41/2012). In der Zusammenschau hält die Bundesrechtsanwaltskammer das Verständigungsgesetz für verfassungsgemäß, sofern die Prozessbeteiligten die gesetzlich geregelten Vorschriften in der Praxis auch tatsächlich umsetzen. Auf Kritik stößt indes die fachgerichtliche Rechtsprechungspraxis, bei Verstößen gegen die formellen Voraussetzungen einer Verständigung, namentlich die Dokumentations-, Mitteilungs- und Belehrungspflichten, ein Beruhen des Urteils auf dem formellen Fehler auszuschließen. Dadurch verlören die Formvorschriften an jeglicher Relevanz, die Eindämmung informeller Absprachen werde nachhaltig erschwert. Im Fazit vertritt die Bundesrechtsanwaltskammer die Auffassung, dass Normen, die bei unterstellter Rechtstreue sinnvoll seien, nicht deshalb als ungeeignet angesehen werden dürften, weil sie auch missbraucht werden könnten. Das Verständigungsgesetz kranke weniger an legislativen Fehlern als vielmehr an fehlender bzw. ungenauer Umsetzung in der Praxis durch die Verfahrensbeteiligten.

Mit dieser Ansicht positioniert sich die Bundesrechtsanwaltskammer konträr zu Stimmen in der Literatur, die das Verständigungsgesetz als „Geburtsfehler und Mogelpackung zugleich“ (Knauer / Lickle­der NStZ 2012, 366) oder „Kreierung eines grundsätzlichen Problems“ (Wohlers, NJW 2010, 2470) bezeichnen. Insgesamt steht die Strafrechtslehre den Regelungen des Verständigungsgesetzes ablehnend gegenüber. Hauptkritikpunkt ist – sowohl vor als auch nach der gesetzlichen Regelung – die Gefährdung bzw. Verletzung strafprozessualer Maximen, namentlich des Nemo Tenetur-Grundsatzes, des Schuldprinzips, des Amtsermittlungsgrundsatzes, des Mündlichkeits- sowie Öffentlichkeitsprinzips sowie die Beschneidung von Angeklagtenrechten durch Rechtsmittelverzichte, die in der Praxis und rechtswidrig vereinbart werden. Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Die besondere Brisanz der nunmehr anhängenden Verfahren liegt in dem konkret formulierten, gerichtlich geltend gemachten Vorwurf der Verfassungswidrigkeit des Verständigungsgesetzes.

Vor dem Hintergrund dieser bislang vorliegenden Stellungnahmen bleibt abzuwarten, wie sich das BVerfG in seinem jetzt schon als grundlegend zu bezeichnenden Urteil positionieren wird. Mit der Urteilsverkündung wird Mitte 2013 gerechnet.

Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte