Mit Urteil vom 25.02.2015 – 8 A 959/10 – hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) – unter Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) – entschieden, dass ein Verstoß gegen die in § 4 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG) aufgeführten Verfahrensvorschriften bei der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPVerfahrensfehler) auch für betroffene Nachbarn (sog. Individualkläger) Drittschutz entfaltet und die Klagebefugnis auch unabhängig von einer Betroffenheit in materiellen Rechtspositionen begründet. Dies gilt jedoch nur in Nachbarklageverfahren, in denen die Kläger zur „betroffenen Öffentlichkeit“ im Sinne des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) gehören. Hierzu zählen diejenigen Nachbarn, die durch die jeweilige Zulassungsentscheidung (z.B. eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung) in ihren Belangen berührt sind, weil sie aufgrund der räumlichen Nähe ihres Grundstücks den Immissionen der genehmigten Anlage ausgesetzt sind.
Gegenstand der vorgenannten Entscheidung war eine Anfechtungsklage, mit der Grundstücksnachbarn die Aufhebung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung zur „wesentlichen Änderung von 7 Windkraftanlagen“ begehrten. Im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren war zwar eine standortbezogene Vorprüfung des Einzelfalls durchgeführt worden. Diese kam jedoch zu dem Ergebnis, dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) nicht durchzuführen sei, weil bereits im vorausgegangenen Baugenehmigungsverfahren eine UVPVorprüfung durchgeführt worden war. Mit der im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren hiervon abweichenden „geringfügigen technischen Optimierung der Windkraftanlagen“ seienkeine relevanten Umweltauswirkungen verbunden.
Die Kläger, die Eigentümer eines in der Nähe der Anlagen gelegenen Grundstückes sind, auf dem sich ein Wohnhaus und eine Pferdezucht befinden, vertraten hingegen den Standpunkt, dass die Genehmigung einer gesonderten UVP bedurft hätte. Diese hätte zudem vor der Erteilung der Genehmigung durchgeführt werden müssen, so dass es nicht ausreichend sei, dass die Vorprüfung – wie vorliegend – erst im Berufungsverfahren nachgeholt wurde.
Das OVG NRW hat sich dieser Bewertung angeschlossen und der Klage stattgegeben. Insbesondere hat das OVG NRW eine Klagebefugnis der Kläger nach § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit der Begründung angenommen, dass die Verfahrensvorschriften der UVP-Richtlinien bei unionsrechtskonformer Auslegung auch Schutznormen im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO zugunsten der betroffenen Nachbarn seien. Dies gelte auch unabhängig von einer möglichen Verletzung materieller Nachbarrechte (z.B. Rücksichtnahmegebot), da § 4 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 und 2 UmwRG den Nachbarn insoweit ein selbständig durchsetzbares, absolutes Verfahrensrecht einräume.
Mit dieser Entscheidung weicht das OVG NRW von der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG ab, wonach die vorgenannten Regelungen ausschließlich die Begründetheit eines Nachbarrechtsbehelfs betreffen, der Kreis der Klagebefugten hierdurch jedoch nicht erweitert werde.
Das OVG NRW stützt seine Entscheidung insoweit auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), wonach sich auch Einzelne auf die Einhaltung der Vorschriften der UVP-Richtlinie berufen können müssen (EuGH, Urteil vom 14.03.2013, AZ: C 420/11). Nach Auffassung des OVG NRW setzt ein effektiver Zugang zu den Gerichten in diesem Sinne voraus, dass auch UVP-Verfahrensfehler selbstständig und losgelöst von einer Betroffenheit in drittschützenden materiellen Rechten von den betroffenen Nachbarn gerügt werden können. Voraussetzung sei jedoch, dass die klagenden Nachbarn von den Auswirkungen der genehmigten Anlage tatsächlich (z.B. durch Lärm) betroffenen seien, denn nur als Bestandteil einer betroffenen Öffentlichkeit im Sinne des UVPG könnten sie den Verfahrensfehler rügen.
Sollte sich die Auffassung des OVG NRW durchsetzen, ist der Beachtung der Vorgaben des UVPG – insbesondere solche betreffend die Vorprüfung – noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen als dies bisher erforderlich war. Denn insoweit ist die Aufhebung der Genehmigungsentscheidung durch Anfechtungskläger, die durch das Vorhaben betroffen sind, vergleichsweise leicht zu haben.
Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte