Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens im Einzelfall (BVerwG, Urteil vom 15.09.2010 – 8 C 21/09)

Ein Widerspruchsverfahren nach § 68 VwGO ist über die gesetzlich ausdrücklich geregelten Fälle hinaus ausnahmsweise auch dann entbehrlich, wenn dessen Zweck bereits Rechnung getragen ist oder dieser ohnehin nicht mehr erreicht werden kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Ausgangsbehörde zugleich Widerspruchsbehörde ist und den Bescheid aufgrund einer sie bindenden Weisung der (Rechts)- Aufsichtsbehörde erlassen hat.

Dieser verwaltungsprozessrechtlich interessanten Entscheidung liegt ein Sachverhalt aus dem Bereich des Organisationsrechts der Freien Berufe (Steuerberaterkammer) zugrunde. Ausgangspunkt bildete der Antrag eines Kammermitglieds, die angemessene Vergütung für eine von ihm durchgeführte Abwicklung der Praxis eines verstorbenen Steuerberaters durch die Kammer festsetzen zu lassen. Zwischen den Erben des verstorbenen Steuerberaters als Auftraggeber und der beauftragten Steuerberatergemeinschaft war Streit über die Höhe der angemessenen Vergütung entstanden. In dem Zivilrechtsstreit darüber wurde vom Landgericht zum Beweis zunächst ein Gutachten bei der Steuerberaterkammer eingeholt. Nach einem Berichterstatterwechsel wies das Landgericht die Parteien darauf hin, dass es bei den bestehenden Meinungsverschiedenheiten Aufgabe der Steuerberaterkammer sei, die Höhe der angemessenen Abwicklervergütung festzusetzen.

Der daraufhin von der Steuerberatergemeinschaft gestellte Antrag auf Festsetzung der angemessenen Vergütung wurde von der Steuerberaterkammer abgelehnt. Das Landgericht setzte sich deswegen mit dem Finanzministerium des betroffenen Bundeslandes als Aufsichtsbehörde der Kammer in Verbindung, das die Rechtsauffassung des Gerichts teilte, die Höhe der angemessenen.

Abwicklervergütung sei durch die Kammer festzusetzen. Der bestellte Praxisabwickler habe Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Sie sei auf der Grundlage einer Durchschnittsmonatsvergütung eines angestellten Steuerberaters zu ermitteln.

Mit dem angefochtenen Bescheid der Kammer wurde die angemessene Höhe der Vergütung festgesetzt. Sie ist Gegenstand eines eigenen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zwischen der Steuerberatergemeinschaft einerseits und der Selbstverwaltungskörperschaft andererseits.

Die Klage wurde vom Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Urteil vom 15.03.2007 als unzulässig abgewiesen, da es an einer Durchführung eines Vorverfahrens gemäß § 68 VwGO fehle. Auch der Verwaltungsgerichtshof hat die hiergegen eingelegte Berufung mit Urteil vom 04.03.2009 mit der Begründung zurückgewiesen, das Verwaltungsgericht habe die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen. Die Revision der Steuerberatergemeinschaft ist schließlich als zulässig und begründet erachtet worden.

Die Revision wurde als begründet angesehen, da das angefochtene Urteil Bundesrecht verletzte. Zwar habe die Steuerberatergemeinschaft gegen den ablehnenden Bescheid der Kammer wegen Fehlens der Rechtsmittelbelehrung auch nicht innerhalb der dafür maßgeblichen Jahresfrist Widerspruch eingelegt, im vorliegenden Fall wurde jedoch erkannt, dass die Klage trotz fehlenden Widerspruchsverfahrens zulässig sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist über die gesetzlich ausdrücklich geregelten Fälle hinaus ein Vorverfahren ausnahmsweise dann entbehrlich, wenn dem Zweck des Vorverfahrens bereits Rechnung getragen ist oder dieser ohnehin nicht mehr erreicht werden kann (Tz. 24 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).

An dieser Rechtsprechung ist festgehalten worden. Ausnahmsweise ist ein Widerspruchsverfahren auch dann entbehrlich, wenn die Ausgangsbehörde zugleich Widerspruchsbehörde ist und den in Rede stehenden Bescheid aufgrund einer sie bindenden Weisung der (Rechts-) Aufsichtsbehörde erlassen hat, so dass sie bei Fortbestehen der Weisung den Ausgangsbescheid in einem Widerspruchsverfahren ohnehin nicht mehr ändern könnte. Diese Auslegung ist von Seiten des Gerichts im Hinblick auf eine Übereinstimmung mit dem Wortlaut in § 68 Abs. 1 VwGO, dessen Entstehungsgeschichte und der Gesetzessystematik überprüft worden. Denn in einem Fall, in dem die Behörde durch die zuständige Aufsichtsbehörde zu ihrer Entscheidung verbindlich angewiesen worden sei, könnten die vom Gesetz normierten Zwecke eines Vorverfahrens unabhängig von der subjektiven Einschätzung der Prozessbeteiligten objektiv nicht mehr erreicht werden. In diesem Zusammenhang wird die Verbindlichkeit und der Aufsichtscharakter des Schreibens der Aufsichtsbehörde gegenüber der Steuerberaterkammer im Einzelnen untersucht und bestätigt. Auf die Revision wurde deshalb das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlungen und Entscheidungen zurückverwiesen.

Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte

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