BVerwG zu gewerblichen Sammlungen 2: Gericht ebnet Weg für Rekommunalisierung

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat in einer Grundsatzentscheidung vom 30.06.2016 die lange umstrittene Rechtsfrage geklärt, wann bei Bestehen eines haushaltsnahen oder sonstigen hochwertigen Getrennterfassungssystems des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers (örE) konkurrierenden gewerblichen Sammlungen überwiegende öffentlich-rechtliche Interessen entgegenstehen. Es erkennt zwar die Notwendigkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (KrWG) an, nimmt im Ergebnis zu Lasten der gewerblichen Sammler jedoch eine weit restriktivere Position ein als die bisherige überwiegende Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte. Allein eine sog. Irrelevanzschwelle (im konkreten Fall: 10 – 15 % der gesamten Alttextilmenge) soll darüber entscheiden, ob gewerbliche Sammlungen wegen der vorhandenen Getrennterfassung durch den örE untersagt werden dürfen. Für viele gewerbliche Sammlungen dürfte dies das Aus bedeuten.

 

Eine gewerbliche Sammlung von Abfällen aus privaten Haushaltungen ist nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 KrWG nur zulässig, wenn die Abfälle einer ordnungsgemäßen und schadlosen Verwertung zugeführt werden und der Sammlung keine überwiegenden öffentlichen Interessen entgegen stehen. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, stehen einer gewerblichen Sammlung insbesondere überwiegende öffentliche Interessen entgegen, muss die Sammlung nach § 18 Abs. 5 Satz 2 KrWG von der zuständigen Behörde untersagt werden, wenn mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen, um die Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen sicherzustellen. Wann einer gewerblichen Sammlung überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen, ist im Einzelnen in § 17 Abs. 3 KrWG geregelt.

 

Im Zentrum der diesbezüglichen Diskussion und einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten stand bislang § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG. Danach ist eine wesentliche Beeinträchtigung der Planungssicherheit und Organisationsverantwortung des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers anzunehmen, wenn durch die gewerbliche Sammlung Abfälle erfasst werden, für die der örE oder dessen Drittbeauftragter eine haushaltsnahe oder sonstige hochwertige getrennte Erfassung und Verwertung der Abfälle durchführt. Viele Kommunen hatten darauf gestützt den Standpunkt vertreten, dass jegliche Konkurrenz zwischen einer Getrennterfassung durch den örE – an deren Hochwertigkeit keine hohen Voraussetzungen gestellt werden – und gewerblichen Sammlungen ausgeschlossen sei. Die daraufhin ergangenen Untersagungsverfügungen wurden von den zuständigen Gerichten jedoch vielfach aufgehoben. Überwiegend bejahte die Rechtsprechung – mit im Einzelnen unterschiedlichen Argumenten – die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung der Regelung, vor allem, um einen Widerspruch zu höherrangigem EU-Recht zu vermeiden. Im Ergebnis wurde von den meisten Gerichten eine Einzelfallbetrachtung durchgeführt. So ging zum Beispiel das OVG Münster von einer zweistufigen Prüfung aus: Auf der ersten Stufe wurde geprüft, ob die Sammelmenge der gewerblichen Sammlungen so gering ist, dass sie von vornherein als unerheblich angesehen werden musste; auf der zweiten Stufe wurden – bei Überschreitung dieser „Irrelevanzschwelle“ – die Auswirkungen auf das konkrete Erfassungssystem des örE „vor Ort“ in den Blick genommen.

 

Das BVerwG hat im Urteil vom 30.06.2016 nunmehr zwar ebenfalls die Notwendigkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG bejaht, einer einzelfallbezogenen Betrachtung jedoch eine klare Absage erteilt. Insbesondere habe die – beispielsweise vom OVG Münster praktizierte – zweistufige Prüfung keine Grundlage im Gesetz. Stattdessen sei ein generalisierender Maßstab in Form einer sog. „Irrelevanzschwelle“ anzulegen, von der nach unten oder nach oben nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände abgewichen werden könne. Statt von „Irrelevanzschwelle“ sollte hier allerdings besser von „Wesentlichkeitsschwelle“ oder „Gefährdungsschwelle“ gesprochen werden, denn bei einer Überschreitung dieser Grenze soll nach Auffassung des BVerwG ohne weitere Prüfung die in § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG normierte Vermutung einer wesentlichen Beeinträchtigung der Planungssicherheit und Organisationsvermutung des örE eingreifen, die betroffene(n) gewerbliche(n) Sammlung(en) also unzulässig sein.

 

Zur Höhe der „Irrelevanzschwelle“ hat sich das BVerwG im Urteil vom 30.06.2016 nicht abschließend geäußert. Bei einer Abfallfraktion „wie Alttextilien“ sei sie nicht zu niedrig anzusetzen, denn das Erfassungssystem sei hier durch stationäre Einrichtungen gekennzeichnet; das auf Schwankungen empfindlicher reagierende Holsystem trete aufgrund eines zeitlich gestreckten Abholrhythmus gegenüber dem Bringsystem eher in den Hintergrund. Die in der Rechtsprechung vielfach herangezogene Schwelle von 10 bis 15% werde dem gerecht. Diese Bandbreite ermögliche es, verschiedene Konstellationen angemessen zu bewerten. Wenngleich das BVerwG zu anderen Abfallfraktionen (z.B. Altpapier, Altmetall) nicht Stellung genommen hat, lassen seine Ausführungen in der Tendenz für diese Fraktionen kaum höhere Irrelevanzschwellen erwarten. Im Gegenteil ist zu befürchten, dass im Bereich des Altpapiers aufgrund der größeren Verbreitung von Holsystemen („blaue Tonne“) die Irrelevanzschwelle sogar noch niedriger angesetzt wird.

 

Bei der Feststellung der maßgeblichen Sammelmengen sind nach Auffassung des BVerwG nicht nur die bestehenden gewerblichen Sammlungen, sondern auch die bestehenden gemeinnützigen Sammlungen zu berücksichtigen. Letzteres wurde in der bisherigen Rechtsprechung – soweit ersichtlich – noch nicht vertreten und dürfte etwa im Bereich der Alttextilien dazu führen, dass in einigen Gebieten der gesamte nicht dem örE vorbehaltene Anteil der Sammelmenge bereits durch gemeinnützige Sammlungen „aufgebraucht“ wird, sodass gewerbliche Sammlungen dort gar nicht zulässig sind. Dass der Marktzugang von gewerblichen Sammlern auf diese Weise durch gemeinnützige Sammlungen vereitelt werden kann, ist bedenklich, da das Gesetz eine Untersagungsmöglichkeit gegenüber gemeinnützigen Sammlungen wegen überwiegender öffentlicher Interessen nicht vorsieht. Es ist fraglich, ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, zumal das Grundgesetz keinen Vorrang gemeinnütziger vor gewerblicher Betätigung kennt.

 

Angezeigte Sammelmengen bleiben nach Ansicht des BVerwG bis zur bestandskräftigen Untersagung berücksichtigungsfähig. Dies soll auch dann gelten, wenn eine angefochtene Untersagungsverfügung für sofort vollziehbar erklärt wurde, und die Sammlung daher nicht durchgeführt wird. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung, ob die „Irrelevanzschwelle“ überschritten ist, soll nach Ansicht des BVerwG stets der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung sein. Im Laufe des Verfahrens bestandskräftig werdende Untersagungen konkurrierender Sammlungen kommen dem klagenden Sammler also ebenso zugute, wie neue Anzeigen während des Verfahrens zu seinen Lasten gehen. Im Extremfall könnte damit im Ergebnis die Reihenfolge der Terminierung bei den Verwaltungsgerichten darüber entscheiden, wer sammeln darf und wer nicht: Hat nämlich eine Vielzahl von konkurrierenden gewerblichen Sammlern in einem Gebiet gegen Untersagungsverfügungen geklagt, könnte die „Irrelevanzschwelle“ bei den später verhandelten Sammlungen schon wieder unterschritten sein, wenn früher terminierte Prozesse zuungunsten des jeweiligen Sammlers – insbesondere durch die von Verwaltungsgerichten üblicherweise angeregte Klagerücknahme – rechtskräftig abgeschlossen sind. Trotz gleicher Ausgangslage müssten die später verhandelten Klagen dann Erfolg haben – ein evidenter Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.

 

Aus Sicht der privaten Entsorgungswirtschaft ist das Urteil vom 30.06.2016 ernüchternd: Die in der Rechtsprechung vieler Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte entwickelten Ansätze, die missglückte Regelung des § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG in einer Weise einschränkend auszulegen, die sowohl den berechtigten Interessen gewerblicher Sammler als auch denjenigen der örE ausgewogen Rechnung trägt, wurden über Bord geworfen. An ihre Stelle tritt ein starres System mit einer dezisionistisch festgelegten Irrelevanzschwelle im Hinblick auf die Sammelmenge, für deren Höhe es keinen Anhalt im Gesetz gibt. Wichtige Differenzierungen in der bisherigen Rechtsprechung wie die Differenzierung danach, ob das Erfassungssystem des örE oder die gewerblichen Sammlungen „zuerst da waren“, werden vom BVerwG nicht aufgegriffen. Erwägungen dazu, wie rechtsstaatswidrige Ergebnisse bei der Feststellung der relevanten Sammelmengen, z.B. infolge der Anzeige von „Phantasiemengen“ durch einzelne Sammler, vermieden werden können, fehlen. Eine Verteilung des „zur Verfügung stehenden Marktanteils“ unter den gewerblichen Sammlern, insbesondere durch die Sammelmenge beschränkende Auflagen nach § 18 Abs. 5 Satz 1 KrWG, soll nicht stattfinden; wird mit der letzten Anzeige die Irrelevanzschwelle überschritten, können auch früher angezeigte Sammlungen untersagt werden. Bestehende (oder neu aufgenommene) gemeinnützige Sammlungen beschränken den für gewerbliche Sammlungen zur Verfügungen stehenden Marktanteil zusätzlich. Alles in allem wird dies für viele Sammlungen das Aus bedeuten.

 

In rechtlicher Hinsicht vermag die Entscheidung nicht zu überzeugen: Wenig einzuwenden ist allerdings gegen die ausführlichen Erwägungen des BVerwG zum Unionsrecht, mit denen das BVerwG offenkundig auf die verbreitete und selbst vom Gesetzgeber des KrWG aufgegriffene Kritik an seiner früheren Altpapierentscheidung aus dem Jahr 2009 reagiert hat. Das insoweit erzielte Ergebnis, dass § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG unionsrechtskonform als widerlegliche Vermutung ausgelegt werden müsse und es maßgeblich darauf ankomme, ob „Grundstrukturen der Entsorgung, die der öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger zur Gewährleistung einer sachgerechten Aufgabenerfüllung nach Maßgabe seiner organisatorischen Grundentscheidungen ins Werk gesetzt hat, wesentlich umgestaltet werden müssten“, verdient Zustimmung. Für den nachfolgenden Teil der Entscheidung, mit dem das BVerwG seine grundsätzlichen Erwägungen umzusetzen versucht, kann dies jedoch nicht gelten, denn das BVerwG lässt insoweit nicht nur die argumentative Rückkopplung an seine eigenen unionsrechtlichen Erwägungen vermissen, sondern begründet wesentliche Aussagen der Entscheidung überhaupt nicht. Dies gilt namentlich für die sog. „Irrelevanzschwelle“, die vom BVerwG nur scheinbar aus der bisherigen Rechtsprechung übernommen wurde, da sie dort eine ganz andere Funktion hatte. In der Konsequenz dürfte sich die Entscheidung des BVerwG damit selbst als unionsrechtswidrig erweisen. Ob diese Entwicklung den laufenden Beschwerden gegen das KrWG bei der EU-Kommission neuen Auftrieb verleiht, bleibt abzuwarten.

 

Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte