In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2016 hatte das Bundesverwaltungsgericht die sogenannte „Irrelevanzschwelle“ als Maßstab für die Zulässigkeit gewerblicher Sammlungen von verwertbaren Abfällen aus privaten Haushaltungen eingeführt (BVerwG, Urteil vom 30.06.2016 – 7 C 4/15) und diese in späteren Entscheidungen (BVerwG, Urteile vom 11.07.2017 – 7 C 35/15 und 7 C 36/15) bestätigt. In zwei weiteren Entscheidungen knüpft das Bundesverwaltungsgericht an diese Rechtsprechungslinie an und stärkt insbesondere den Schutz sogenannter gewerblicher „Bestandssammlungen“.
Ausweislich der benannten Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus 2016 ist im Bereich der gewerblichen Sammlung von verwertbaren Abfällen aus privaten Haushaltungen ein Nebeneinander von staatlich organisiertem Erfassungssystem und konkurrierenden gewerblichen Sammlungen mit Rücksicht auf die europarechtliche Warenverkehrsfreiheit und das Wettbewerbsrecht grundsätzlich zu gewährleisten. Diese Gewährleistung ist jedoch nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht grenzenlos, sondern auf noch „irrelevante“ Belastungsfolgen für den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger begrenzt. Die gesetzlich in § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG vorgesehene Vermutung, wonach bei einem Nebeneinander von öffentlich-rechtlich und gewerblich getragenen Sammlungen überwiegende öffentliche Interessen einer gewerblichen Sammlung entgegengehalten werden können, soll nur greifen, soweit die von privaten Sammlungen zu erwartenden negativen Auswirkungen auf die Sammelmengen des staatlich getragenen Systems ein „relevantes“ Ausmaß erreichen, wobei das Bundesverwaltungsgericht für den Bereich der Sammlung von Alttextilien den aus Sicht des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers hinzunehmenden Mengenentzug – je nach konkreter Ausgestaltung des staatlichen Sammelsystems – auf 10-15 % bezifferte.
Zur Berücksichtigung von bereits in der Vergangenheit rechtmäßig durchgeführten gewerblichen Sammlungen
In der Rechtsprechung umstritten ist zum einen die Frage, welche Erfassungsmengen privater (gemeinnütziger und gewerblicher) Sammlungen dem Erfassungssystem des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers unter dem Gesichtspunkt der „Irrelevanzschwelle“ überhaupt gegenüberzustellen sind.
Nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW, Urteil vom 06.03.2018 – 20 A 795/15 und Urteil vom 22.02.2018 – 20 A 818/15) und anderer Obergerichte (BayVGH, Beschlüsse vom 11.01.2018 – 20 ZB 17.1914 und 20 ZB 17.1916; BayVGH, Beschluss vom 30.01.2017 – 20 CS 16.1416, und im Anschluss hieran OVG Niedersachsen, Urteil vom 15.02.2018 – 7 LB 71/17) ist die „Irrelevanzschwelle“ lediglich ein Mittel, um Auswirkungen zu bewerten, die von geplanten Sammlungen ausgehen, die erstmalig Marktzutritt begehren. Gefragt wird insofern nach der zu erwartenden „Zusatzbelastung“, die bei einer Realisierung der bislang lediglich angezeigten, aber noch nicht durchgeführten Sammlungen zu erwarten ist. Die im jeweiligen gerichtlichen Entscheidungszeitpunkt bereits rechtmäßig durchgeführten sogenannten „Bestandssammlungen“ des „status quo“, angesichts derer sich das staatliche System bereits behaupten musste, werden bei der Bewertung des zu erwartenden Mengenentzugs nach dieser Auffassung nicht berücksichtigt.
Demgegenüber vertreten einzelne Untergerichte (so z.B. VG Potsdam, Urteil vom 08.03.2018 – 1 K 459/15, im Anschluss an VG Potsdam, Urteil vom 6. Juli 2017 – VG 1 K 675/15; VG Münster, Urteil vom 22. März 2017 – 7 K 1467/14) die Auffassung, dass der durch den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger erzielten Erfassungsmenge sämtliche Mengen derselben Fraktion aus privaten Sammlungen gegenüberzustellen seien, unabhängig davon, ob diese bereits früher neben der staatlich getragenen Sammlung durchgeführt worden seien oder sie zukünftig erstmalig den Marktzutritt begehrten. Von diesen Gerichten wird somit – im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung – nicht nach einer zukünftig zu erwartenden „Zusatzbelastung“, sondern nach der „Gesamtbelastung“ für den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger durch alle bereits durchgeführten und die nur angezeigten, aber noch nicht durchgeführten gewerblichen und gemeinnützigen Sammlungen gefragt.
Das Bundesverwaltungsgericht tritt der zuletzt genannten Ansicht mit seinen Judikaten vom 23.02.2018 (7 C 9/16 und 7 C 10/16) entgegen. Der Entscheidung lag die Klage eines gewerblichen Sammlers u.a. von Altpapier, Altmetall und Grünschnitt zugrunde, dessen Sammlung durch die zuständige Behörde unter Verweis auf eine eigene kommunale Sammlung untersagt worden war. Bei der untersagten Sammlung handelte es sich um eine solche, mit der der private Sammler bereits vor Inkrafttreten des KrWG im Jahr 2012 begonnen hatte. Das Bundesverwaltungsgericht stellt vor diesem Hintergrund klar, dass im Rahmen der behördlicherseits anzustellenden Auswirkungsprognose maßgeblich auf die Veränderung des Sammelsystems des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers durch den Marktzutritt weiterer privater Sammler abzustellen sei. Hingegen komme es nicht darauf an, welche Mengen zustande gekommen wären, wenn die bislang durchgeführten gewerblichen Sammlungen nicht stattgefunden hätten. Da die tatsächlich erzielte Sammelmenge des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers die Grundlage für seine Organisationsstruktur bilde, könne bei bereits durchgeführten Sammlungen auch nicht auf das Inkrafttreten des Kreislaufwirtschaftsgesetzes zum 01.06.2012 als maßgeblichem, quasi fiktiven Zeitpunkt eines Marktzutritts abgestellt werden. Ausdrücklich heißt es in der Entscheidung weiter, dass eine solche Bestandssammlung keinen negativen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit der Sammlung des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers haben könne, weil sie nicht neu hinzutritt und sich dessen System hierauf bereits eingestellt habe.
Zur konkreten Ermittlung der zu erwartenden Belastung für das kommunale System
Eine weitere durch die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgeworfene und in der obergerichtlichen Rechtsprechung gegenwärtig nicht einheitlich beantwortete Frage ist, wie die vom (geplanten) Marktzutritt privater Sammler zu erwartende Zusatzlast konkret zu ermitteln ist.
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen stellt hierbei den auf Seiten des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers gesammelten Mengen diejenigen Mengen gegenüber, die durch alle – erstmalig auf den Markt strebenden, aber noch nicht durchgeführten – gemeinnützigen und gewerblichen Sammlungen erfasst werden sollen (OVG NRW, Urteil vom 06.03.2018 – 20 A 795/15 und Urteil vom 22.02.2018 – 20 A 818/15). Überschreite der Anteil der letztgenannten Sammlungen, gemessen an der durch das staatliche System erfassten Menge, 10-15 %, soll die Irrelevanzschwelle überschritten sein.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof und im Anschluss hieran das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht legen bei der Ermittlung der Zusatzlast einen etwas differenzierteren Bewertungsmaßstab zugrunde. Die Gerichte ermitteln in einem ersten Schritt den „status quo“. Hierzu wird die aktuelle Gesamtsammelmenge anhand der tatsächlichen Sammelmengen sowohl des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers als auch der rechtmäßig durchgeführten gemeinnützigen und gewerblichen Sammlungen ermittelt. Sodann wird der prozentuale Anteil der durch das staatliche System erfassten Sammelmengen an der Gesamtsammelmenge einerseits und der Anteil der privaten (gemeinnützigen und gewerblichen) Sammlungen an der Gesamtsammelmenge andererseits bestimmt. In einem zweiten Schritt bestimmen die benannten Obergerichte die anstehenden Veränderungen, d.h. die zu erwartende mengenmäßige Zusatzbelastung. Hierzu werden die erwarteten Sammelmengen sämtlicher noch nicht bestandskräftig untersagter gemeinnütziger und gewerblicher Sammlungen ermittelt und zusammengerechnet, die zukünftigen Marktzutritt begehren. Schließlich werden in einem letzten Schritt die ermittelten zusätzlichen Sammelmengen auf Seiten der privaten Sammler den tatsächlichen Sammelmengen des Entsorgungsträgers gegenübergestellt und hiernach die Rückgänge auf Seiten des Entsorgungsträgers prognostiziert und bewertet. In diesem Rahmen wird danach gefragt, um welchen prozentualen Anteil sich der Anteil des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger am gesamten Sammelaufkommen reduzieren würde, unterstellt, dass sich die zu erwartenden zusätzlichen Sammelmengen realisieren ließen. Hieran wird sodann gemessen, ob die Schwelle von 10-15 % überschritten ist.
Einen ersten – wichtigen – Schritt bilden insofern die beiden Judikate des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.02.2018 (7 C 9/16 und 7 C 10/16). Diese stellen klar, dass bei der Auswirkungsprognose nur insofern auf das Zusammenwirken sämtlicher privater (d.h. gemeinnütziger und gewerblicher) Sammlungen zu blicken ist, als es sich um Sammlungen handelt, die für die Zukunft erstmalig Marktzutritt begehren. Mengen hingegen, die von Bestandssammlungen erfasst worden sind, sind vom staatlich getragenen System hinzunehmen und bleiben bei der Prognose zur Irrelevanzschwelle außer Betracht.
Eine weitere noch klärungsbedürftige Frage ist, ob mit dem Konzept der Irrelevanzschwelle nicht zwingend auch die Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit im Wettbewerb verbunden sein muss, der von den Behörden mittels gerechter und transparenter Zuteilungskriterien zur Geltung zu verhelfen wäre. Die Obergerichte – wohl einzige Ausnahme ist insofern die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes, Urteil vom 12.01.2017 (2 A 147/15) – sehen dies wohl überwiegend nicht so: Es sei nicht Aufgabe der Behörden und Gerichte, angezeigte Sammlungen lediglich auf das „gerade noch zulässige Maß“ zu beschränken. Damit wird der Möglichkeit zur Teiluntersagung als milderes Mittel gegenüber einer Volluntersagung in den Fällen eine Absage erteilt, in denen mehr private Sammler um den Marktzutritt „buhlen“ als nach der Irrelevanzschwelle zulässig. Doch dies überzeugt nicht. Denn eine solche Totaluntersagung sämtlicher angezeigter Sammlungen – auch über die Irrelevanzschwelle hinaus – lässt sich mit ihrer rechtlichen Begründung aus den europäischen Grundfreiheiten und dem europäischen Wettbewerbsrecht heraus nicht in Einklang bringen. Wo die zuständige Abfallbehörde mit einer Teiluntersagung bzw. der Zuweisung von Mengenkontingenten weniger einschneidende Maßnahmen treffen kann, muss sie dies auch tun und darf nicht aus bloßen Praktikabilitätsgründen zum Mittel der pauschalen Volluntersagung greifen.
Quelle: KOPP-ASSENMACHER & NUSSER
Das dazu gehörige Fachseminar ist in der Seminarwelt des IWU Magdeburg auffindbar.