Vorhabengenehmigung und Enteignung – Der BGH strafft die Zügel im Enteignungsrecht

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem beachtenswerten Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14 – zentrale und aktuelle Fragen des Enteignungsrechts entschieden. Das Urteil ruft die rechtsstaatliche Strenge des Enteignungsrechts in Erinnerung. Damit strafft der BGH die Zügel gegenüber enteignungswilligen Verwaltungsbehörden und den Instanzgerichten, die bisweilen geneigt sind, den politisch und ökonomisch motivierten Enteignungswünschen der Verwaltung und der Vorhabenträger in allzu „großzügiger“ und einseitiger Weise stattzugeben. Durch die Erkenntnisse des BGH wird die Rechtsstellung betroffener Eigentümer gestärkt. Dies gilt auch, wenn Vorhaben zur Nutzung erneuerbarer Energien im Wege der Enteignung durchgesetzt werden sollen. Solche Vorhaben dienen nach der Rechtsprechung nicht per se dem Wohl der Allgemeinheit. Vielmehr muss die Erforderlichkeit und damit die Rechtmäßigkeit der Enteignung konkret und im Einzelfall geprüft und nachgewiesen werden.

 

In dem vom BGH entschiedenen Fall wandte sich eine kommunale Gebietskörperschaft (im Folgenden: Gemeinde) als Grundstückseigentümerin gegen eine Enteignung zu Gunsten einer Vorhabenträgerin, die auf Grundstücken der Gemeinde einen Windpark plante und inzwischen auch errichtet hat. Der Windpark liegt in einem im regionalen Raumordnungsplan ausgewiesenen Vorbehaltsgebiet zur Nutzung der Windenergie. Die zuständige höhere Verwaltungsbehörde erteilte die immissionsschutzrechtliche Genehmigung des Windparks und ordnete die sofortige Vollziehbarkeit der Genehmigung an.

 

Die Gemeinde erhob verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Genehmigung und beantragte – erfolglos – die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Anfechtungsklage. Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung über die Hauptsache stand im Zeitpunkt des BGH-Urteils noch aus. Das Verwaltungsgericht hatte das Verfahren der Anfechtung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des enteignungsrechtlichen Baulandverfahrens ausgesetzt.

 

Für die Realisierung des Windparks war es erforderlich, eine Zuwegung zu den einzelnen Windenergieanlagen anzulegen und Kabeltrassen zu errichten. Von der Trassierung waren insgesamt zwölf im Eigentum der Gemeinde stehende Grundstücke betroffen. Nachdem die Vorhabenträgerin mit der Gemeinde keine Einigung über die Nutzung der zwölf Grundstücke erzielen konnte, beantragte sie bei der zuständigen Enteignungsbehörde die vorzeitige Besitzeinweisung und die Enteignung in Form von Dienstbarkeiten zu ihren Gunsten hinsichtlich der Zuwegung und der Kabeltrassen auf den gemeindlichen Grundstücken. Das Wirtschaftsministerium des Landes stellte als zuständige Energieaufsichtsbehörde die Zulässigkeit der Enteignung fest.

 

Daraufhin wies die Enteignungsbehörde die Vorhabenträgerin für die Baumaßnahmen der Zuwegung und der Kabeltrassen vorzeitig in den Besitz der Grundstücke ein. Zugleich ordnete sie die sofortige Vollziehung der Besitzeinweisung an.

 

Hiergegen beantragte die Gemeinde im Verfahren vor den Kammern und Senaten für Baulandsachen (§§ 217 ff. Baugesetzbuch – BauGB, die nach den Enteignungsgesetzen der Länder entsprechend anwendbar sind) die gerichtliche Entscheidung über den Besitzeinweisungsbeschluss. Zugleich begehrte die Gemeinde die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Antrags.

 

Das Landgericht (LG, Kammer für Baulandsachen) lehnte das vorläufige Rechtsschutzbegehren ab. Auf die Beschwerde der Gemeinde stellte das Oberlandesgericht (OLG, Senat für Baulandsachen) die aufschiebende Wirkung des gegen den Besitzeinweisungsbeschluss gerichteten Antrags auf gerichtliche Entscheidung wieder her. Den Antrag auf gerichtliche Entscheidung wies das LG zurück. Auf die Berufung der Gemeinde hob das OLG den Besitzeinweisungsbeschluss auf, weil dessen gesetzliche Voraussetzungen nicht vorlägen.

 

In der Folgezeit erließ die Enteignungsbehörde den streitgegenständlichen Enteignungsbeschluss. Darin ordnete sie die Bestellung einer beschränkten persönlichen Dienstbarkeit zu Gunsten der Vorhabenträgerin an. Gegen den Enteignungsbeschluss stellte die Gemeinde erneut einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Diesen Antrag wies das LG zurück. Auf die Berufung der Gemeinde hob das OLG den Enteignungsbeschluss teilweise auf; im Übrigen wies es die Berufung zurück.

 

Die vom OLG zugelassene Revision der Gemeinde hatte vor dem BGH Erfolg. Die Revision der Vorhabenträgerin hat der BGH hingegen zurückgewiesen.

 

Nach der Erkenntnis des BGH hat das OLG die Rechtmäßigkeit der Enteignung nach den einschlägigen Vorschriften (§ 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Energiewirtschaftsgesetz – EnWG – in Verbindung mit den dort in Bezug genommenen Vorschriften des Landesenteignungsgesetzes) im entschiedenen Fall zu Unrecht bejaht. Die Voraussetzungen für eine Enteignung nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 EnWG lägen – so der BGH – nicht vor. Zum Zeitpunkt der Urteilsfindung lasse sich nicht feststellen, dass die Enteignung dem Wohl der Allgemeinheit diene.

 

Wie der BGH im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) klarstellt, kann zwar die Gemeinde als juristische Person des öffentlichen Rechts grundsätzlich nicht den verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz der Eigentumsgarantie (Art. 14 Grundgesetz – GG) beanspruchen (BGH, Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14, Rn. 27 unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 08.04.1998 – 1 BvR 1680/93, 1580/94). Dieshindert den einfachen Gesetzgeber aber nicht, juristischen Personen des öffentlichen Rechts einfachrechtlich die gleichen Eigentumsrechte einzuräumen (BVerfG, a.a.O.; BGH, a.a.O.). Da § 45 Abs. 1 EnWG nicht zwischen der Enteignung privater und inländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts unterscheidet, sind – so der BGH – die Enteignungsvoraussetzungen gleich, so dass die inländische juristische Person des öffentlichen Rechts „von den Ausstrahlungswirkungen des Art. 14 GG auf die einfachrechtliche Norm (mittelbar) profitiert“ (BGH, a.a.O.).

 

Nach der grundlegenden Erkenntnis des BGH dient eine Enteignung nur dann dem Wohl der Allgemeinheit, wenn das Vorhaben, das verwirklicht werden soll, mit dem geltenden Recht vereinbar ist. Eine Enteignung ist demgemäß nur für ein Vorhaben zulässig, für das die notwendigen Genehmigungen vorliegen oder bei dem es zumindest keinem ernsthaften Zweifel unterliegen kann, dass erforderliche Genehmigungen erteilt werden (BGH, Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14, Rn. 28 unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 20.02.2008 – 1 BvR 2389/06, Rn. 10 und BVerwG, Urteil vom 06.03.1987 – 4 C 11.83).

 

Zwar ist, wie der BGH klarstellt, der bestandskräftige Abschluss des erforderlichen (etwa des immissionsschutzrechtlichen) Genehmigungsverfahrens keine unabdingbare Voraussetzung für eine Enteignung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Frage der Genehmigungsfähigkeit eines Vorhabens bei der Prüfung der Enteignungsvoraussetzungen vernachlässigt werden dürfte. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass eine Enteignung zu Gunsten eines privaten Dritten – wie der Vorhabenträgerin des vorliegenden Falles – nur dann erfolgen darf, wenn gewährleistet ist, dass der im Allgemeininteresse liegende Zweck der Maßnahme erreicht und dauerhaft gesichert wird (BGH, Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14, Rn. 30 unter Bezugnahme BVerfG, Urteil vom 24.03.1987 – 1 BvR 1046/85).

 

Diese Anforderungen können bei genehmigungsbedürftigen Vorhaben grundsätzlich nur dann ohne Weiteres als erfüllt angesehen werden, wenn die erforderlichen öffentlich-rechtlichen Genehmigungen bestandskräftig vorliegen. Ist eine erforderliche Genehmigung noch nicht erteilt, so kann einem Enteignungsantrag nur stattgegeben werden, wenn die Enteignungsbehörde in eigenverantwortlicher Prüfung zu dem Ergebnis kommt, dass dem Vorhaben keine öffentlichrechtlichen Hindernisse entgegenstehen (BGH, Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14, Rn. 31 unter Bezugnahme auf BayVGH, Urteil vom 13.02.2003 – 22 A 97.40029).

 

Ist – wie im vorliegenden, vom BGH entschiedenen Fall – eine notwendige Genehmigung angefochten, aber für sofort vollziehbar erklärt worden, so kann – sofern das Gesetz nichts anderes vorschreibt – diese „bloß vorläufig“ wirksame Genehmigung dem insoweit „endgültigen“ Enteignungsverfahren nicht unbesehen zugrunde gelegt werden. Vielmehr hat die Enteignungsbehörde auch in einem solchen Fall eigenverantwortlich darüber zu befinden, ob die gegen die Genehmigung erhobenen Einwände durchgreifen (BGH, Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14, Rn. 31).

 

Diesen Anforderungen genügte der angefochtene Enteignungsbeschluss in dem vom BGH entschiedenen Fall schon deshalb nicht, weil die Enteignungsbehörde und die gerichtlichen Vorinstanzen sich mit der Feststellung begnügt hatten, dass die immissionsschutzrechtliche Genehmigung sofort vollziehbar war. Zudem entsprachen, wie der BGH hervorhebt, die Feststelllungen des Landeswirtschaftsministeriums zur Erforderlichkeit des Vorhabens und zur Zulässigkeit der Enteignung nicht den gesetzlichen Anforderungen.

 

Eine Enteignung kommt nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG und der einfachgesetzlichen Vorschrift des § 45 Abs. 1 EnWG nur in Betracht, wenn sie zur Erfüllung der jeweiligen öffentlichen Aufgabe (hier: der Energieversorgung) unumgänglich erforderlich ist (BGH, Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14, Rn. 37 unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 12.11.1974 – 1 BvR 32/68). Die Enteignung ist ultima ratio. Die bloße Sinnhaftigkeit, Nützlichkeit oder Geeignetheit zur Aufgabenerfüllung genügt daher nicht (BGH, a.a.O.).

 

Diese allgemeinen Aussagen hat der BGH mit Bezug auf den entschiedenen Fall präzisiert: Ein Leitungsvorhaben ist energiewirtschaftlich erforderlich, wenn es eine vorhandene Versorgungslücke schließen soll oder der Versorgungssicherheit dient (BGH, Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14, Rn. 38 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 11.07.2002 – 4 C 9.00). Wie der BGH klarstellt, besteht eine Versorgungslücke, wenn der Energiebedarf in einem Versorgungsraum gegenwärtig oder in absehbarer Zeit nicht ausreichend gedeckt werden kann. Besteht ein Energiebedarf, ist zu fragen, ob technische Alternativen der Bedarfsdeckung bestehen, die das Leitungsvorhaben erübrigen. Die Versorgungssicherheit ist z.B. gefährdet, wenn der Ausfall einer Stromleitung (oder eines Kraftwerks) im Versorgungsraum nicht sicher beherrscht werden kann. Auch hier stellt sich, wie der BGH anmerkt, die Frage, ob technische Alternativen zur Herstellung der Versorgungssicherheit ein Leitungsvorhaben überflüssig machen. Jedenfalls ist eine umfassende Erforderlichkeitsprüfung unter Berücksichtigung der gesamten Versorgungssituation vorzunehmen (BGH, Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14, Rn. 38).

 

Diesen Anforderungen genügte nach der Erkenntnis des BGH im entschiedenen Fall die Zulassungsentscheidung des Landeswirtschaftsministeriums nicht. Mit ihr konnte daher die Erforderlichkeit der Enteignung und damit deren Zulässigkeit nicht begründet werden (BGH, Urteil vom 12.03.2015 – III ZR 36/14, Rn. 40).

 

Mit unmissverständlicher Konsequenz resümiert der BGH seine in energiewirtschaftlicher wie in eigentums- und enteignungsrechtlicher Hinsicht klare Linie:

 

Der Umstand, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien – so auch der Windkraft – energiepolitische Priorität genießt und beschleunigt erfolgen soll, rechtfertigt für sich genommen – also ohne den konkreten Bezug zur Versorgungslage im betreffenden Gebiet und die gebotene Prüfung anderweitiger Versorgungsalternativen – nicht den Entzug oder die zwangsweise Belastung von Grundeigentum für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen (oder sonstigen Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien). Ebenso wenig vermag der Aspekt, erneuerbare Energien könnten allgemein wegen des sog. Merit-Order-Effekts den Strompreis reduzieren, eine Enteignung gerade des Grundstücks der betroffenen Gemeinde für den hier vorgesehenen Windpark zu rechtfertigen.

 

Die Feststellungen des BGH verdienen unter eigentums- und enteignungsrechtlichen wie auch unter rechtsstaatlichen Vorzeichen Beachtung. Sie geben der Verwaltung und den Instanzgerichten eine klare Linie vor: Das energiepolitische Bemühen um die Förderung erneuerbarer Energien rechtfertigt für sich genommen – ohne den konkreten Bezug zur Versorgungslage im betreffenden Gebiet und die Prüfung weiterer Versorgungsalternativen – nicht die Inanspruchnahme fremden Eigentums durch Verwaltungsbehörden oder Vorhabenträger. Vielmehr bleibt die Erforderlichkeit einer beabsichtigten Enteignung nach den vom BGH aufgezeigten Maßstäben des Art. 14 Abs. 3 GG und des einfachen Gesetzesrechts mit der gebotenen rechtsstaatlichen Strenge zu prüfen.

 

Im Hinblick auf den Rechtsschutz gibt zu denken, dass das Urteil des BGH vom 12.03.2015 von einer kommunalen Gebietskörperschaft in einer langwierigen und komplizierten Kette von Verfahren zur Verteidigung ihres Grundstückseigentums erstritten werden musste. Betroffene Privateigentümer dürften hierzu aus wirtschaftlichen Gründen nur selten in der Lage sein. Umso mehr ist zu hoffen, dass die vom BGH gestrafften Zügel des Enteignungsrechts eine disziplinierende Wirkung ausüben.

 

Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte