Bereits realisierte Hochspannungsfreileitung auf dem gerichtlichen Prüfstand

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg hat mit Urteil vom 13.10.2016 – 7 KS 3/13 – auf die Klage eines Landwirts hin einen Planfeststellungsbeschluss für eine 110-kV-Freileitung aufgehoben. Durch das Gericht war im Wesentlichen zu klären, ob die für das Vorhaben durchgeführte Vorprüfung im Einzelfall nach § 3c des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) nachvollziehbar ist. Als Ergebnis der von der beklagten Behörde durchgeführten Vorprüfung sollte das Vorhaben keiner Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) bedürfen; eine Einschätzung, die nach Auffassung des Gerichts indes nicht nachvollziehbar ist. Dieser Mangel der Vorprüfung stelle zugleich den Fall einer unterlassenen UVP dar. Weil eine Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren nicht mehr in Betracht kämen, habe der Planfeststellungsbeschluss für die – zwischenzeitlich vollständig realisierte – 110-kV-Freileitung letztlich aufgehoben werden müssen.

Der Kläger, Eigentümer einer landwirtschaftlichen Hofstelle, begehrte die Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses vom 27.12.2012 für den „Ersatzneubau“ einer 110-kV-Freileitung auf einer Länge von etwa 34,7 km zwischen den Umspannwerken Hemmoor und Cuxhaven- Industriestraße. Die dort ursprünglich errichteten Masten und Leiterseile waren zurückgebaut und in Umsetzung des angegriffenen Planfeststellungsbeschlusses ersetzt worden. Dabei wurden die Masten und der Abstand der Leiterseile zu der Geländeoberfläche zum Teil um mehr als 10,0 m erhöht. Die Masten 87 und 89 der planfestgestellten Freileitung liegen auf den im Eigentum des Klägers stehenden Flurstücken; dementsprechend wurden die Leiterseile über seine Grundstücke gespannt. Der Mast 89 steht in einem Abstand von 4,0 m zum klägerischen Scheunengebäude. Der geringste Abstand der Leiterseile zur Hofstelle des Klägers beträgt etwa 35 m bis 40 m.

Das streitgegenständliche Vorhaben erforderte mit einer Länge von mehr als 15 km und einer Nennspannung zwischen 110 und 220 kV nach Nr. 19.1.2 der Anlage 1 zum UVPG eine Vorprüfung des Einzelfalls, welche die Vorhabenträgerin Mitte 2009 beantragte. Die Beklagte kam im Jahr 2009 zu dem Ergebnis, eine UVP sei nicht erforderlich. Daraufhin beantragte die Vorhabenträgerin die Planfeststellung.

Die gegen den ergangenen Planfeststellungsbeschluss gerichtete Klage des Landwirts hat das OVG Lüneburg für zulässig und begründet erachtet. Denn die Vorprüfung des Einzelfalls genügte nach seiner Auffassung nicht dem Maßstab des § 3a Satz 4 UVPG mit der Folge, dass nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG) zugleich von einer nicht durchgeführten UVP auszugehen war.

Diese Verfahrensmängel konnte der Kläger rügen; insoweit bestanden keine Bedenken an der Zulässigkeit seiner Klage. Denn obwohl er den Einwand der unterbliebenen UVP bzw. unzulänglichen Vorprüfung des Einzelfalls erstmals im Klageverfahren geltend gemacht hatte, war er mit diesem Einwand nicht präkludiert, weil die maßgeblichen Präklusionsvorschriften wegen Unvereinbarkeit mit den Regelungen in verschiedenen EU-Richtlinien (Art. 11 RL 2011/92/EU und Art. 25 RL 2010/75/EU) in Ansehung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15.10.2015 – C-137/14 – und des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 22.10.2015 – 7 C 15.13 – nicht zur Anwendung kamen.

Das OVG Lüneburg hat sodann die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe b), Satz 2 UmwRG geprüft. Danach kann die Aufhebung bestimmter Zulassungsentscheidungen – wie hier einer Planfeststellung – verlangt werden, wenn eine Vorprüfung des Einzelfalls zwar stattgefunden hat, aber nicht dem Maßstab des § 3a Satz 4 UVPG genügt. Danach ist die gerichtliche Überprüfung der UVP-Vorprüfung darauf beschränkt festzustellen, ob die Vorprüfung entsprechend den Vorgaben des § 3c UVPG durchgeführt worden ist und ob das Ergebnis nachvollziehbar ist. Nach § 3c UVPG ist eine UVP als Ergebnis der Vorprüfung des Einzelfalls durchzuführen, wenn die zuständige Behörde aufgrund „überschlägiger Prüfung“ bestimmter Kriterien darauf erkennt, dass das in Frage stehende Vorhaben erhebliche nachteilige Umweltauswirkungen haben kann.

Das Ergebnis der UVP-Vorprüfung aus dem Jahr 2009 ist nach Auffassung des OVG Lüneburg nicht nachvollziehbar. Zur Begründung zeigt das Gericht im Einzelnen die Grundsätze auf, die es bei der Beurteilung der Umweltauswirkungen auf der Grundlage des jeweiligen materiellen Zulassungsrechts und unter Berücksichtigung des Umfangs der gerichtlichen Prüfung nach § 3a Satz 4 UVPG zu beachten gilt. Danach habe sich das Gericht auf eine Plausibilitätskontrolle unter Zugrundelegung der von der Behörde für ihr Prüfergebnis gegebenen Begründung zu beschränken. Dies bedeute zum einen, dass nachträglich gewonnene Erkenntnisse für die Entscheidung über die Notwendigkeit einer UVP nicht maßgeblich sein könnten, zum anderen, dass verbleibende Zweifel zu Gunsten einer UVP-Pflicht ausschlügen.

Selbst bei ausschließlicher Betrachtung der anlagen- und betriebsbedingten Beeinträchtigungen, welche sich aus den planfestgestellten Veränderungen der Freileitungen ergäben, erweise sich die durchgeführte UVP-Vorprüfung auf der Grundlage der seinerzeit vorliegenden Unterlagen und Informationen als eine bloß oberflächliche Abschätzung spekulativen Charakters und sei unter Zugrundelegung der gegebenen Begründung nicht plausibel.

Zur Begründung zitiert das Gericht die maßgeblichen Passagen aus dem die UVP-Vorprüfung dokumentierenden Schreiben und nimmt zudem Bezug auf den Prüfkatalog der im Gerichtsverfahren beigeladenen Vorhabenträgerin zur Ermittlung der UVP-Pflicht bei Hochspannungsleitungen. Danach seien zum Teil mit hoher Wahrscheinlichkeit Auswirkungen auf eine Reihe relevanter Schutzgüter zu besorgen; zudem seien die Auswirkungen von Dauer.

An einer Bewertung dieser Kriterien bzw. einer plausiblen Begründung, warum gleichwohl erhebliche nachteilige Umweltauswirkungen durch das Vorhaben nicht eintreten könnten, fehle es jedoch in der UVP-Vorprüfung der Beklagten. An der Nachvollziehbarkeit des Ergebnisses der UVP-Vorprüfung fehle es auch, weil das letztlich planfestgestellte Vorhaben eine deutlich höhere Umweltrelevanz aufweise als dasjenige, das Gegenstand der UVP-Vorprüfung gewesen sei. Im Jahr 2009 habe der geplante „Ersatzneubau“ der Freileitung 162 Masten an den gleichen Standorten mit einer maximalen Erhöhung der Masten um einen Meter umfasst; dies war Gegenstand der UVP-Vorprüfung. Bei dem planfestgestellten Vorhaben sei dagegen bei mehr als der Hälfte der Masten eine deutliche Erhöhung um bis zu etwa 9,5 m vorgesehen gewesen. Wegen dieser Erhöhung wurde im Planfeststellungsverfahren eine erhebliche Beeinträchtigung des Landschaftsbildes mit der Folge einer Ersatzzahlung von mehreren hunderttausend Euro festgestellt, die von dem Gericht als ein weiteres Indiz für eine UVP-Pflichtigkeit des Vorhabens angesehen wurde. Gleiches gilt nach Auffassung des Gerichts für weitere naturschutzrechtlich bedingte Nebenbestimmungen, welche im Planfeststellungsverfahren hinzugekommen waren.

Gleichwohl habe dies die Beklagte nicht zum Anlass genommen, eine neue oder jedenfalls eine Aktualisierung der Vorprüfung vorzunehmen, sondern in der öffentlichen Bekanntmachung der Auslegung der Planunterlagen in Mitte 2011 auf die Vorprüfung aus dem Jahr 2009 Bezug genommen.

Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerwG sei in Fällen wie dem vorliegenden, in denen im Rahmen der UVP-Vorprüfung in nicht vertretbarer Weise auf eine fehlende UVP-Pflichtigkeit erkannt wurde, zugleich davon auszugehen, dass das Vorhaben UVP-pflichtig war und also eine UVP hätte durchgeführt werden müssen. Daher liege – über die im Ergebnis nicht vertretbare UVP-Vorprüfung hinaus – auch ein Fall einer zu Unrecht unterbliebenen UVP im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 a) UmwRG vor.

Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerwG‘s und des EuGH’s komme bei einem derartig schweren Verfahrensmangel auch keine Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren gemäß § 75 Abs. 1a Satz 2 VwVfG mehr in Betracht, sodass die Planfeststellung aufzuheben gewesen sei. Selbst wenn dies anders zu sehen sein sollte, könne im vorliegenden Fall die unterlassene UVP nicht (mehr) durch Planergänzung oder ein ergänzendes Verfahren behoben werden, da das Vorhaben bereits verwirklicht worden sei.

Die Entscheidung des OVG Lüneburg unterstreicht einmal mehr die Bedeutung, welche das Recht der Umweltverträglichkeitsprüfung vor dem Hintergrund der Regelungen des UmwRG und der dadurch (auch für Privatpersonen) eröffneten Klagemöglichkeiten für öffentlich-rechtliche Zulassungsverfahren in der Praxis entfalten kann.

Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte

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