Grau ist alle Theorie – Satzungsrecht und Grundsatz der konkreten Vollständigkeit

In dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (OVG) vom 14.01.2015 – OVG 9 S 44.14 – ging es um die Frage, ob die einem Beitragsbescheid zu Grunde liegende Beitragssatzung wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der konkreten Vollständigkeit unwirksam ist.

 

Das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) (VG) hatte in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen einen Beitragsbescheid angeordnet. Die dem Beitragsbescheid zu Grunde liegende Beitragssatzung hielt das VG für unwirksam, weil der Satzungsgeber – ein Zweckverband – geregelt hatte, dass die Beitragserhebung nach einem kombinierten Vollgeschossmaßstab durch Multiplikation der bevorteilten Grundstücksfläche mit der zulässigen Geschossfläche vorzunehmen sei. Nach Auffassung des VG fehlte in der Satzung eine Bestimmung, wie die Anzahl der Vollgeschosse zu ermitteln sei, wenn ein Bebauungsplan nur eine Geschossflächenzahl bzw. Grundflächenzahl festsetze und weder aus dem Bebauungsplan noch aus der Umgebungsbebauung abzuleiten sei, wie hoch zulässigerweise gebaut werden dürfe. Das OVG hat auf Antrag des Zweckverbandes den Beschluss des VG zur Sicherung des Rangs des Beitrags als einer auf dem Grundstück ruhenden öffentlichen Last vorläufig außer Vollzug gesetzt.

 

Das OVG hält die Entscheidung des VG für offensichtlich fehlerhaft, weil das VG den Grundsatz der konkreten Vollständigkeit nicht richtig angewendet hat. Im Anschlussbeitragsrecht muss der Satzungsgeber zwar nach ständiger Rechtsprechung des OVG den Verteilungsmaßstab für alle im Versorgungsgebiet in Betracht kommenden Anwendungsfälle regeln, um den Grundsatz der konkreten Vollständigkeit einzuhalten. Der Grundsatz der konkreten Vollständigkeit verlangt aus Sicht des OVG aber nicht, dass in der Satzung ein Beitragsmaßstab für alle „irgendwie denkbaren“ Fälle geregelt sein muss. Der Satzungsgeber sei vielmehr nur gehalten, eine Maßstabsregelung für die realistischerweise zu erwartenden Fälle zu treffen. Ein Bebauungsplan, der nur Festsetzungen zur Geschossflächenzahl oder zur Grundflächenzahl, aber keine Festsetzungen zur zulässigen Zahl der Vollgeschosse oder zur zulässigen Höhe bzw. Baumassenzahl für Baukörper enthält, ist nach Auffassung des OVG kein realistischerweise zu erwartender Fall. Das OVG weist darauf hin, dass ein solcher Bebauungsplan rechtswidrig sein dürfte, weil ihm die städtebaulich ordnende Funktion fehlt. Unbeschadet dessen sei realistischerweise nicht zu erwarten, dass eine Gemeinde als Plangeber den Aufwand eines Bebauungsplanungsverfahrens für einen derart rudimentären Plan betreiben würde.

 

Mit der zitierten Entscheidung fügt das OVG seiner Rechtsprechung zum Grundsatz der konkreten Vollständigkeit der Beitragsmaßstäbe eine weitere Facette hinzu. Das OVG folgt damit nicht der in der Verwaltungsgerichtsbarkeit oft verfolgten extensiven Auslegung und Anwendung des Grundsatzes der konkreten Vollständigkeit, die teilweise auf eine Regelung aller „denkbaren“, d.h. theoretisch möglichen Beitragsmaßstäbe abstellt. Das OVG verfolgt hier vielmehr die Linie, dass es erforderlich ist, aber auch ausreicht, dass der Satzungsgeber bei der Aufstellung der Beitragssatzung sorgfältig prüft, welche Beitragsmaßstäbe in seinem Verbandsgebiet tatsächlich zu erwarten sind. Die theoretische Möglichkeit, dass verbandsangehörige Kommunen Bebauungspläne ohne städtebauliche Ordnungsfunktion erlassen könnten, muss ein Zweckverband dagegen grundsätzlich nicht berücksichtigen.

 

Auch nach der zitierten Entscheidung des OVG obliegt die Ermittlung der „realistischerweise zu erwartenden“ Veranlagungsfälle und der daraus abzuleitenden Anwendungsfälle und Verteilungsmaßstäbe allerdings weiterhin den Zweckverbänden. Zur Vermeidung einer Verletzung des Grundsatzes der konkreten Vollständigkeit sind deshalb sowohl bei der Gestaltung der Beitragssatzung als auch bei der Kalkulation alle in Betracht kommenden Anwendungsfälle sorgfältig und umfassend zu ermitteln.

 

Quelle: Köhler & Klett Rechtsanwälte